Die Laute (German Edition)
das Gegenteil behauptet.
Aber nun kommt selbst ihr großes mütterliches Herz an seine Grenzen. Sie ist allein mit ihm und hat ihren Schleier abgelegt. Sie ergreift die verbundenen Hände ihres Sohnes und hält sie schützend in den ihren, auch wenn es nun zu spät ist. Fast jeder Knochen ist zertrümmert. Der Arzt konnte ihr nicht sagen, ob Asis sie je wieder wie zuvor wird gebrauchen können.
Dann beginnt sie zu weinen. Sie sagt etwas, doch hält die Hand vor dem Gesicht. Und Asis hört sie nicht mehr. Weiß nicht, ob sie noch spricht oder nur noch weint. Und nun begreift er: Kann er ihre Lippen nicht sehen, kann er sie nicht hören.
Eigentlich ist der Junge zu alt, als dass eine Mutter sich noch diese Tränen, diese Verzweiflung erlauben dürfte. Aber die Wunden geben ihr offenbar das Recht, jedes Recht! Wunden bleiben die Nabelschnur zwischen Mutter und Kind. Jede ihrer Gesten, ihrer Tränen ist ein Stillen und Trösten.
Es ist Asis, der ihr seine Hände entzieht.
15
Asis will mit niemandem reden. Nicht so sehr, weil er es nicht kann. Er könnte das, was es zu sagen gibt, aussprechen oder aufschreiben. Aber er fühlt keinen Wunsch in sich, irgendjemandem etwas mitzuteilen oder von irgendjemandem etwas zu erfahren. Man soll ihn einfach in Ruhe lassen!
Er spricht nicht einmal mit den Pflegern und Ärzten. Wenn sie ihm etwas sagen, schaut er demonstrativ weg oder schließt die Augen. Die Pfleger nehmen es ihm nicht übel und verrichten weiter routiniert ihre Arbeit, so wie sein Vater Schuhe flickt.
Wenn Asis etwas braucht, zeigt er darauf, auf das Essen, die Wasserflasche, ein Schmerzmittel oder die Bettpfanne. Nicht mehr. Gerade das, wozu der Körper ihn zwingt.
Es gibt keine Geräusche, keine Klänge, keine Wörter und Sätze in seinem Kopf. Nur eine weiße Stille. Warum nur sind alle Krankenzimmer weiß getüncht? – Natürlich, es gibt die Erinnerungen an Klänge, Wörter und Sätze. Aber er gießt ihr Säure ins Ohr.
Er schließt die Augen. Erträgt die mitleidvollen Gesten nicht, die erbärmlichen Aufmunterungsversuche. Die Pfleger lassen es schnell bleiben. Sie verstehen. Oder haben schon bemitleidenswertere Patienten gepflegt.
Er begreift immer noch gut, was sie ihm sagen wollen, es steht in ihren Gesichtern geschrieben. Aber wie können sie ihn verstehen? Wie begreifen, was es heißt, plötzlich keine Welt mehr um sich zu haben? Ja, wenn er die Augen schließt, gibt es sie plötzlich nicht mehr, eine Welt außerhalb seines Kopfes, seines Schmerzes, der weißen Stille. So muss es sich anfühlen, lebendig begraben worden zu sein. Von meterhoher Erde erstickt zu werden. Er wünscht sich, Nassar hätte noch einmal zugeschlagen und dem allen ein Ende bereitet.
Der Arzt betritt das Zimmer. Er hält grauschwarze Folien in der Hand, Röntgenbilder. Er fragt nicht, wie es Asis geht. Er hat auch keine Tränen in den Augen, sondern blickt streng und kühl, sodass Asis seine Augen offen halten kann.
Der Arzt zeigt ihm die Aufnahmen seiner Finger- und Handknochen. Er muss sie nicht kommentieren. Asis sieht selbst, was ein Ziegelstein und gekränkte Ehre anrichten können. Dann legt der Arzt die schematische Zeichnung eines Ohrs und seines verborgenen Inneren vor Asis auf das Laken. Der Mechanismus aus Knöchelchen, Membranen und Nerven sieht kompliziert aus. Doch Asis muss sich nicht die Mühe machen, ihn zu verstehen. Der Arzt erklärt ihm nüchtern, dass die Säure dieses ganze feine Hörwerk zersetzt habe und er wohl nie wieder werde hören können. Asis nickt. Das ist das erste vernünftige Gespräch, das er seit Nassars Lehre mit einem anderen Menschen geführt hat.
Der Arzt nimmt sein Anschauungsmaterial und beendet seine Visite so kühl und sachlich, wie er sie begonnen hat: Zwar sollte Asis seine Hände noch eine gewisse Zeit schonen, teilt er seinem Patienten, unterstützt von entsprechenden Gesten, mit, doch seien seine Beine von dem ›Unfall‹ doch wohl unbeschadet geblieben, sodass er durchaus aufstehen und sie benutzen dürfe und nicht für jede kleine Notdurft nach den Pflegern klingeln müsse.
Asis nimmt es zur Kenntnis. Es sind nicht seine Beine, es ist der Schmerz in seinem Kopf, ganz nah und lauernd, der bei jeder Bewegung explodiert. Aber das geht den Arzt nichts an. Er kann aufstehen und gehen, er kann sich vor ein Auto werfen oder vom Dach des Krankenhauses stürzen. Er kann die Stadt verlassen, zu den Wasserfällen hinauswandern und in eines der kalten Becken tauchen. Er kann sich
Weitere Kostenlose Bücher