Die Laute (German Edition)

vor das Haus der Khasamis stellen, einen Gruß an Inaja ans Hoftor pinseln, mit Mund und Zähnen, wie andere Handlose es auch vermögen, und Nassar zur Erteilung weiterer Lehren ermutigen. Ja, die Zukunft scheint reicher an Möglichkeiten als je zuvor!
    Dann steht sein Vater an seinem Bett. Er bewegt seine Lippen. Lautlos? Wie im Gebet? Er trägt seine Freitagssenna. Ist heute denn schon wieder der Tag des Moscheebesuchs? Er hält die Hände gefaltet, raue, zernarbte Hände, in deren großen Poren und unter deren Nägeln sich die schwarze Schuhwichse unauswaschbar festgesetzt hat. Als er Asis’ Blick auf sie gerichtet sieht, presst er sie an seinen Körper, als schäme er sich ihrer in diesem weißen, sauberen Zimmer.
    Nie haben diese Hände ihn geschlagen und selten nur berührt. Sie berühren Asis auch jetzt nicht. Vielleicht war es anders, als er klein war. Asis erinnert sich nicht mehr daran. Er weiß nur, Onkel Ruschd, der Schwager seines Vaters, hat ihm immer die mangelnde Strenge vorgeworfen. »Wer seinen Sohn liebt, der verabreicht ihm hin und wieder eine Tracht Prügel!«, ermahnt der Schlachter den Schuster ständig. Dann lächelt sein Vater matt und nickt.
    Der Vater weiß, dass Asis ihn nicht hören kann. Hat er es auch schon begriffen? Verlegen steht er da, wie ein Schuljunge an der Tafel, der die Lösung nicht kennt. Er ist nur vier oder fünf Jahre zur Schule gegangen. Selbst wenn er Stift und Papier dabei gehabt hätte, wäre es ihm schwer gefallen, das, was er seinem Sohn womöglich hätte sagen wollen, aufzuschreiben. Gesprochen genügt der Name Gottes, alles auszudrücken, was man beklagt oder nicht versteht.
Allah
, ein Wort, geflüstert, gefleht, herausgeschrieen, auf tausendfache Weise. Asis liest dies eine Wort von den Lippen seines Vaters ab, es ist einfach. Sein Vater murmelt den Namen Gottes wieder und wieder, schüttelt den Kopf und fragt sich, womit er es verdient habe, seinen einzigen Sohn, seinen Jüngsten, nun taub und unfähig zu einem ordentlichen Beruf vorzufinden.
    Asis schließt die Augen. Als er sie wieder öffnet, ist sein Vater gegangen.

16
    Früher hatte er Träume, an die er sich beim Aufwachen nicht erinnern konnte. Jetzt hat er Träume, die über das Aufwachen hinaus andauern und ihm Angst machen. Die Nächte strahlen plötzlich wie der helle Tag. Und die hellen Tage werden ihm nahezu unerträglich. Warum taub, warum nicht blind, denkt er dann. Warum hat er mir die Säure nicht in die Augen gekippt?
    Er versucht, die wenigen Dinge zu vergessen, die er in seinem kurzen Leben gelernt hat. Noch am Leben zu sein, gefällt ihm nicht. Und er kann sich nicht vorstellen, dass es ihm je wieder gefallen wird. Dann fürchtet er, noch seinen Verstand zu verlieren. Doch im Grunde weiß er, dass er nicht zu den Menschen gehört, die ihren Verstand verlieren. Um etwas zu verlieren, muss man es erst einmal besitzen! Und für einen kurzen, kaum merklichen Augenblick lächelt er, innerlich, für niemanden außer ihm selbst, dem plötzlich Großäugigen, sichtbar.
    Sie haben ihm Kuskus mit Rosinen und Hammelfleisch mitgebracht, ein Festessen, das es im Haus seines Vaters nur zum Opferfest gibt. Fünf weitere, in seinen Augen uralte Männer, liegen in Asis’ Zimmer. Kommen weibliche Angehörige zu Besuch, stellen die Pfleger einen mit undurchsichtigem weißem Stoff bespannten Paravent um das Bett.
    Sie sind erschrocken über Asis’ bandagierten Kopf und seine eingegipsten Hände. Sie wissen nur ungefähr, was passiert ist. Nun fragen sie sich, wie ihr Bruder essen soll. Sie führen ihm eine kleine Pantomime des Fütterns vor und kichern verlegen. Asis schüttelt den Kopf. Lieber würde er verhungern, als sich von seinen Schwestern füttern zu lassen. Und bei seinen unbeholfenen Bemühungen, selbstständig zu essen, sollen sie ihm erst recht nicht zuschauen.
    Die Schwestern scheinen Vergnügen am Gestikulieren gefunden zu haben. Nasiks Lippen formen überdeutlich Nassars Namen, dann gibt sie ihrem Bruder mit Gesten zu verstehen, er sei verhaftet worden und säße nun im Gefängnis. Dr. Fuad habe ihn angezeigt, nachdem die Polizei zunächst nichts unternommen habe. Nassars Vater sei ja ein einflussreicher Mann.
    Asis ist das alles vollkommen gleichgültig. Am liebsten wäre es ihm, seine Schwestern ließen ihn in Ruhe. Aber er braucht nur die Augen zu schließen, und die Welt ist still, ja fort.
    Aschraka fragt, ob er irgendetwas brauche. Die Mutter käme am Abend noch und könne es