Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
Gläubigen kleinlich und neidisch über ihre geistige Enge und die ihrer Nachbarn wachen.
    Für einen Augenblick stelle ich mir einen Boxkampf vor, der schmalbrüstige Faun, wendig, aber zart und zerbrechlich, und der herrische Gott, größer, schöner, strahlender als sein Gegner, von Anfang an ist der Ausgang klar, allenfalls gegen einen bekifften Harfenisten hätte dieser rehäugige Marsyas eine Chance, nur im Ausweichen ist er stark, doch seine Wendigkeit reizt Apollon nur, seinem Sadismus freien Lauf zu lassen. Zunächst klopft er das Fleisch weich und gerbt ihm das Fell blau und grün, ehe er es ihm am Ende abzieht, drängt den hässlichzarten Faun mit dem großen Kinderkopf in die Ecke der Musen, die sich feierlich bei den Händen halten und den Kampfring begrenzen, und widmet sich zielstrebig zuerst dem Kopf, bis Marsyas aus Nase, Mund und Ohren und selbst aus den Augen blutet, dann der Leber und den Nieren, ruhig, konzentriert, damit er noch eine Runde durchhält.
    Jedes Wort von Marsyas wird von roten, an seinen Lippen zerplatzenden Bläschen begleitet
.
    MARSYAS
    Der Dumme der dir fehlte scheint in mir
    Endlich gefunden im tiefsten hintersten
    Im innersten Monden-O schaut er deiner
    Morgenfratz im Spiegelglas beim Singen zu
    Die Musik ist nicht mehr Träger der Handlung, der Stimmung oder der Gefühle! Sie ist autonom, nicht-illustrativ, widersprüchlich.
    Rezitative, die dem natürlichen Sprechverlauf folgen (Wie spricht ein Gott?);
nobile sprezzatura del canto
(noble Verachtung des Gesangs)
    Ideal wäre, Apollon (Mezzosopran) wie Nero in Monteverdis
L’incoronazione di Popea
durch einen Kastraten verkörpern zu lassen; virtuose Musik, brutaler Charakter
    In Aubers Oper
La Muette de Portici
ist die Titelheldin eine stumme Ballerina. Was für eine kühne Konstruktion für ein Singspiel, und das bereits vor hundertfünfzig Jahren! Sollte nicht auch der Chor der Musen stumm sein?
    Zwiegespräch der Maschinen. Zwei Lautsprecher auf der Bühne, zwei Sprachprogramme,
Therapeut
und
Klient
vielleicht, Endlosschleife eines kontingenten Diskurses (Apollon durch die ›Stimme‹ eines GPS -Navigators ersetzen?)
    Zahlen, Silben, Wortfetzen, Codes, Reißverschlüsse, Klingeltöne, Schlachtgesänge, Folterschreie, Schüsse, Kettensägen, Parlamentsreden, Responsorien, Vogelstimmen, Walgesänge, Kalkbrand, Kalbende Gletscher, Kälte in Klang, Sinfonie der Seile
    Zunächst sterben die Arien, dann die Solisten, die Instrumentalisten, die Librettisten, am Ende stirbt das Publikum.
    Jede zeitgenössische Oper ist ein Singspiel für Taube.
    Es ist bereits neun. Und immer noch bin ich nicht müde. Um mich herum ist es fast beängstigend still. Das, was im Augenblick in meinem Kopf herumspukt, ist nur ein kurzer Rausch, aber noch keine Komposition. Industriealkohol, der rasch verfliegt, nachdem er Hirn und Leber vergiftet hat. Äther. Vorübergehende hypnotische Wirkung, die sich nicht festhalten lässt, wie manchmal im Traum, wenn mir ein Thema, eine Melodie so wichtig erscheint, dass ich sie bis zum Erwachen festhalten will, ja manchmal mich sogar zum Aufwachen zwinge, nur um festzustellen, dass nicht die Melodie, sondern allein das Gefühl der Dringlichkeit wichtig war.
    Fühle mich wie im Kofferraum eines Wagens eingesperrt, geknebelt und gefesselt, auf jeden Fall unfähig, mich zu bewegen oder gar zu befreien. Der Wagen steht auf irgendeinem schattenlosen Parkplatz in der prallen Mittagssonne. Eine weit entfernte Vibration von Autoverkehr. Ich versuche, gegen die Kofferraumhaube zu treten, vergeblich.
    Nun scheine ich doch kurz eingeschlafen zu sein. Ich dusche. Dann gehe ich ins Bett. Nehme meinen Laptop mit. Ich könnte einen Reporter einführen, der die beiden Wettkämpfer interviewt. Wer, glauben Sie, wird siegen, Ape?
    Der Junge hat Talent, antwortet Apollon, aber auch eine große Klappe. Das eine wird ihm nichts nützen, das andere wird ihm zum Verhängnis werden!
    Und Sie, Marsy, was werden Sie nach dem Kampf tun?
    Was wohl, Alter, mich besaufen und Apes Musen ficken!
    Wie haben Sie sich auf diesen Kampf vorbereitet?
    Ich habe gut gegessen, eine Stunde ferngesehen, irgendeine traurige Sendung über das Aussterben der Eisbären, und nun wartet der Masseur auf mich! – Marsyas lacht: Das mit dem Masseur war nur ein Scherz. So was kann ich mir nicht leisten. Außerdem sind die meisten Masseure doch Schwuchteln, nicht wahr?
    Und die meisten Flötenspieler etwa nicht?
    Die Idee einer Kunst, in der zwei Liebende sich

Weitere Kostenlose Bücher