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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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und
    Ersticken warte stirb noch nicht lass uns
    Gott dir zur Hand gehn sieh wie dieser
    Lippenlose Mund des Fauns uns immer noch
    Verhöhnt
    Apollon hört nicht auf die hetzenden Musen. Routiniert sticht er das Messer zwischen die gespreizten Beine des Silen, sich der erniedrigenden Pose des Besiegten vollauf bewusst. Für einen Augenblick ärgert ihn die Hilflosigkeit. Widerstand und Aufbegehren hätten diesem Schnitt das Lüsterne genommen und es wie ein Kampf oder auch ein wildes Liebesspiel erscheinen lassen.
    Nun bleibt es ein Schmerz- und Kotspektakel, vor allem für das gebannte Publikum, eine sadistische Folter mit all ihrer unverheimlichten Erotik, die Glätte der Haut, die Sanftheit des Fells, die Hitze des attischen Nachmittags, auch der Gott erhitzt, schwitzend unter seinen rasierten Achseln, nur mit einer hellen Leinenhose bekleidet, seine ebenmäßige, doch wie ein Rehbock flatternde Brust, in der etwas Lichteres als ein menschliches Herz schlägt.
    Bis zu seinem Ende starrt Marsyas dem Gott in die Augen wie in einen schrecklichen Himmel, der sich als Hölle herausstellt. Wie drückt Musik diesen Schmerz und diese Lust aus, diese Aussichtslosigkeit von jeder Heilung, jeder Besänftigung, jedem Trost? Nur Haut und Schmerz. Als wolle der Gott alles Göttliche leugnen oder austilgen und sich mit der Häutung des Marsyas eine eigene, menschliche Haut zulegen.
    Ist das Arbeit, was ich hier tue? Wenn, dann ist es immer noch Nachtarbeit. Unser Tag folgt den Beschreibungen der Naturwissenschaften, den Erkenntnissen der Neurobiologie, dem Wahren und Schönen unserer Hirne, die durch unsere Hände gegangen sind, in Scheiben geschnitten wurden wie eine große weiße Frucht und durch die Leere des Okulars lesbar wurde, soweit Sehen, Hören, Berühren lesbar sein können.
    Anders ist die Nachtwissenschaft, die ich hier betreibe, das okkulte, alchimistische Destillieren von Melodien, das blinde Herumirren, Zögern, Stolpern, Aufschrecken, Zurückweichen in diesem inneren Lautlabyrinth ohne ein korrigierendes Ohr, einen Blick von außen, einem fernen, unbewegten Beobachter. Ich stecke mittendrin, suche nach Zeichen, nach Hinweisen, einem unerwarteten Wink.
    Natürlich ist das, was ich tue oder suche, untrennbar mit dem Werkzeug meiner Suche verbunden. Hand und Auge sind mit meinem Rechner verdrahtet, nicht mehr Nutzer eines Apparats, sondern ein neues hybrides Wesen, ein Ton-Träger, eine ›Technologie‹, in einem Cyberlaboratorium gezeugt, eine physiologische Maschine, mit einem digitalen Hirn verschmolzen, ein Klang-Apparat, ein Pawlowsches Ensemble aus Mensch und Platine.
    Und so produziere ich meine Musik, einen Liter Töne täglich aus der kleinen Pawlowschen Magensaftfabrik, Musik für zwei Hirne, und ich streichle das Aluminiumgehäuse meines Laptops, als sei es eine inzwischen lieb gewonnene Prothese, ein perfekter Kunststoffarm, den man selbst für das Originalorgan aus Fleisch und Blut nicht mehr eintauschen möchte.
    Und dann geschieht es. Die ultimative Katastrophe! Der Weltuntergang für jeden Künstler, der mit einem Computer zu arbeiten gezwungen ist. Mitten in diesem Tasten, Sieben und Suchen, in diesem Rausch des Ausprobierens und Verwerfens bricht alles zusammen, stürzt ab, stellt sich tot, und lässt sich nicht neustarten, nicht wachküssen, nicht retten. Wo ist die Arbeit von Wochen und Monaten hin? Und heute Abend der Wettbewerb! Es kann doch nicht alles ausschließlich in dieser Maschine sein, auch wenn es in ihr Gestalt angenommen hat! Wo sind sie nun, die Graphen und Flächen, die meine Töne im Kopf repräsentieren und durch einen magischen Prozess der Ver- und Entschlüsselung von virtuellen in hörbare Töne verwandelt haben, digitale Buschtrommeln, Hirnstromverpflanzungen, enzephalographische Telekinesen, gottverdammte Scheiße, das kann doch nicht einfach im kybernetischen Orkus eines falschen Tastendrucks verschwunden sein!
    Ich brauche schnellstmöglich Hilfe. Einen Hardware-Arzt. Doch wer kennt sich mit diesen Dingen aus? Eine falsche Diagnose, und der Schaden ist irreparabel. Said schläft. Ist ohnehin zu weit weg. Und meinen Arbeitskollegen bei UPS würde ich nicht einmal eine Büroklammer zur Reparatur anvertrauen!
    Es ist schrecklich, eine Bosheit des Schicksals, eine Erniedrigung, zu der nichts und niemand mich sonst zwingen könnte als mein Werk, aber mir fällt kein anderer Computerdoktor ein als Bogdan Wolski, mein heimtückischer Nachbar, mein erstes Mordopfer, falls sich je

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