Die Laute (German Edition)
guter Arzt, einfach, was zu tun ist, ohne es einem Laien erklären zu können.
Hätte ich für ihn eine Tasse Tee aufgebrüht, hätte er kaum ausreichend Zeit zum Ziehen gehabt, als Bogdan bereits wieder aufsteht, mir kurz, aber nicht unfreundlich zunickt und ohne irgendeine Notiz von mir abzuwarten hinausgeht und die Wohnungstür hinter sich zuzieht.
Ich setze mich an den Rechner und finde die gesamte Partitur bis zum gestrigen Tag vor. Nur die Arbeit von heute Morgen scheint unwiderruflich verloren gegangen zu sein.
Mir kommt es so vor, als sei ich gerade erst eingeschlafen. Dabei ist es bereits früher Nachmittag. Sie behauptet, die Wohnungstür habe offen gestanden. Dann zieht sie sich aus und legt sich zu mir.
Cześka interessiert sich nicht für Musik. Nicht für klassische, für ernste Musik, versteht sich. Doch genauso wenig mag sie Madonna oder Amy Winehouse. Ihre Verachtung für jegliche Art von Musik tröstet mich. In gewisser Hinsicht ist auch sie taub, ja tauber als ich. Ihre Verachtung ist die Kehrseite einer Reinheit. Ich kann sie lieben, ohne dass ein Ton oder auch nur irgendein Geräusch uns trennen könnte. Sie kann jede erdenkliche Ungeheuerlichkeit über Strawinsky oder Bartók von sich geben, und ich kann versöhnlich dazu nicken.
Sie sagt mir nie, wie es ihr gefallen hat. Ich weiß nicht einmal, ob sie wirklich zuhört, wenn ich ihr meine neueste Arbeit vorspiele. Und im Grunde bin ich froh darüber. Der Sex ist gut, wenn auch nicht mehr. Er ist eher tröstlich als aufregend, und ich hoffe, es wird noch eine Weile Gelegenheit dazu geben, bevor ich ihr zu alt geworden bin und sie sich einen Jüngeren sucht.
Sie schließt das Musikprogramm und schiebt eine DVD in meinen Laptop.
Ein Offizier, Pole oder Russe, im Wald auf der Jagd. Er entdeckt ein Wild und hebt sein Gewehr. Überblendung auf seine Augen. Großaufnahme. Überblendung auf seinen Hund, der bei Fuß steht. Großaufnahme. Überblendung auf die Blickachse des Offiziers, während er den Gewehrlauf entlang sein Ziel anvisiert. Die Kamera fährt sacht den Lauf entlang. Die Kamerafahrt endet mit der Großaufnahme eines Eichhörnchens. Das Eichhörnchen sitzt auf einem Baum und blickt direkt in die Kamera.
Gegenschnitt auf den Jäger, der lächelt und das Gewehr sinken lässt. Das Eichhörnchen flieht. Der Hund rennt los und kehrt mit einem einzelnen Schuh zurück.
Nur dieser kurze Ausschnitt, schwarzweiß, aus der Stummfilmzeit. »
Surrender
von Edward Sloman von 1927«, schreibt Cześka. »Der Rest ist verschollen.«
Eine Bar. Ein Gangster, ein betrunkener Clochard. Schwarzweiß, Zwischentitel. »Du möchtest doch sicher gerne einen Zehner haben?«, fragt der Gangster den heruntergekommenen Trinker. Er nimmt einen Geldschein aus seiner Brieftasche, knüllt ihn zusammen und wirft ihn in einen Spucknapf neben der Tür. Reißschwenk vom Spucknapf auf das angespannte Gesicht des Bettlers. Lange Einstellung, steigende Spannung. Dann schlägt der Gangster dem Clochard seine Faust in den Magen, die Kamera kippt aufwärts, als hätte ich, der Zuschauer, den Schlag abbekommen.
»Sternberg.
Underworld
«, notiert Cześka und ergänzt: »Erster Gangsterfilm der Filmgeschichte.«
Ein Steinbruch. Der Held, Arbeiter? Häftling?, erhält den Befehl, einen Vorschlaghammer zu holen. Der Held ist schmächtig, der Hammer viel zu schwer für ihn. Er nimmt den kleinsten Hammer, den er finden kann, ein Hämmerchen.
Der Vorarbeiter oder Aufseher zwingt ihn, den größten zu nehmen. Noch während der Held sich mit ihm abmüht, fällt der Kopf ab.
Der Aufseher sucht wütend einen anderen, kaum weniger schweren Hammer. In dem Durcheinander gerät dem Helden die Flinte des Aufsehers in die Hände, doch ist er zu naiv oder ungeschickt, jedenfalls weiß er nichts mit ihr anzufangen und wirft sie fort.
Ein Schuss löst sich, ein anderer Aufseher eilt herbei. Erschrocken lässt der Held ihm den schweren Hammer auf die Füße fallen. Im neuerlichen Chaos ergreift er wieder den kleinen Hammer, das Hämmerchen, setzt sich auf einen riesigen Felsblock und klopft sachte wie ein kleines Kind auf ein Schneckenhaus auf ihn ein.
An manchen Tagen kommt mir das Leben hier in Nowa Huta wie geträumt vor. Geträumt von jemand anderem. Dieser Asis kann nicht der Junge aus Ibb sein, der einmal Profifußballer werden wollte. Dann scheint mir diese ganze Vergangenheit, die Kasbah von Ibb, Crater, der Golf von Aden, unwahr, und wenn nicht unwahr, so doch eher wie eine
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