Die Laute (German Edition)
Hosenbund gehören nicht mehr zum Körper eines Knaben.
Nachdem er vergeblich seine widerspenstigen Locken zu bändigen versucht hat, verlässt er das Bad und steht einen Augenblick unschlüssig in dem leeren Flur. Das ganze Haus wirkt wie ausgestorben. Vielleicht einfach deshalb, weil er niemanden hört, denkt er bitter.
Nun spürt er doch so etwas wie Hunger, hat er doch alles, was er am Vortag zu sich genommen hatte, sogleich unverdaut wieder von sich gegeben. Er erinnert sich zwar, wo er die Küche findet, fragt sich aber, ob er dort einfach hereinplatzen und sich etwas zu essen nehmen darf. Eigentlich gehört sie ja zum Reich der Frauen, in dem er nichts zu suchen hat. – Mit trotziger Gleichgültigkeit macht er sich auf den Weg. Man wird es ihm schon deutlich zu verstehen geben, wenn er gewisse Grenzen überschreiten sollte.
Am Abend war die Küche sauber und aufgeräumt. Nun sitzt ein etwa zweijähriger Knabe allein am Tisch und versucht, ein gekochtes Ei von seiner Schale zu befreien. Er nimmt gerade seine Zähne zur Hilfe, als Asis eintritt. Ein gelber Streifen Eigelb rinnt vom Mund bis auf das graue Hemd. Ein Höschen trägt der Junge nicht.
Er starrt Asis unverwandt an. Jeden Augenblick rechnet Asis damit, dass der Kleine die Eierschalen ausspuckt und losbrüllt. Er wagt nicht, sich einen Tee zu kochen, sondern nimmt nur rasch ein Stück Käse aus dem Kühlschrank, rollt es in ein Fladenbrot und trinkt ein Glas Wasser dazu. Während dieses dürftigen Frühstücks versucht er, das Kind nicht anzusehen.
Zurück im kühlen Hausflur fragt sich Asis, was er nun tun soll. In ›seinem‹ Zimmer schläft Said, in der Küche lauert ein zombiehaftes Kind und außerhalb des Hauses ein Himmel, der nicht aufklaren will und aus dem es doch nie regnet. Er ist nun hellwach, und sein Wunsch, sich in eine dunkle Höhle zu verkriechen, und ein frischer jugendlicher Tatendrang liegen in einem noch unentschiedenen Wettstreit miteinander.
Vielleicht sollte er sich erst mal ein wenig mit seinem neuen Zuhause vertraut machen. Zuhause? Wie soll dieses fremde Haus je ein Zuhause werden? Es scheint ihm nicht gerade unheimlich zu sein, doch voller Geheimnisse zu stecken. Diese Tür am Ende des Flurs, erinnert sich Asis, hat Said beim gestrigen Rundgang ungeöffnet gelassen. Ohne neuen Zweifeln und Ängsten eine Chance zur Ausbreitung zu geben, öffnet er sie und bleibt erstaunt stehen.
An allen Wänden mit Ausnahme der Fensterfront zur Straße hin stapeln sich auf maßgezimmerten Regalen Bücher bis hinauf zu den schwarzen Deckenbalken. Offenbar handelt es sich um das Arbeitszimmer Ali al-Halawis, des Hausherrn, auch wenn es ganz und gar nicht so aussieht, wie Asis sich das Büro eines Zollinspektors vorgestellt hat. Eher hätte er Schränke mit Aktenordnern erwartet und vielleicht noch einige dicke ledergebundene Bände mit Zollbestimmungen und dergleichen. Er tritt näher an die Regalwand, überfliegt die Buchrücken und erkennt gleich, dass sich viele fremdsprachige Bücher darunter befinden. Ob Ali sie alle gelesen hat?
Vor dem Fenster steht ein großer schwerer Schreibtisch aus dunklem Nussbaumholz, wie Asis ihn nur aus Filmen kennt, die in Europa spielen. Vielleicht haben die Briten ihn ja hergebracht und hier gelassen. Er sieht auf jeden Fall alt aus.
Auch auf dem Schreibtisch stapeln sich statt Akten Bücher, als sei dieser Raum gar nicht zum Arbeiten, sondern allein zum Lesen bestimmt. Neben einem aufgeschlagenen Buch liegen ein Füllfederhalter, wie auch Dr. Fuad ihn benutzt, und ein Notizblock. Sonst deutet nichts auf Büroarbeit hin. Asis nimmt das Buch in die Hand und liest den Titel:
The Quiet American
. Er hat noch nie davon gehört. Er legt das Buch zurück und wirft einen Blick auf den Schreibblock. Die Notizen sind auf Englisch verfasst: »Unendlich – Nichts. Unsere Seele ist in den Körper gestoßen, wo sie Zahl, Zeit, räumliche Ausdehnung vorfindet, sie denkt darüber nach und nennt das Notwendigkeit.« Asis versteht kein einziges Wort. Genauer: Er versteht die einzelnen Wörter, aber sein Englisch ist nicht gut genug, um sie in dieser merkwürdigen Anordnung zu verstehen. Warum schreibt Ali nicht arabisch?, fragt er sich.
Er blickt auf. Er hat die Schritte nicht gehört, aber die Anwesenheit eines anderen gespürt. Der Zollinspektor steht in der Tür und schaut überrascht auf den jungen, halbnackten Mann in der alten Trainingshose seines Sohnes, der dort, in der einen Hand den gerafften Hosenbund,
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