Die Laute (German Edition)
in der anderen seine Lektürenotizen, an seinem Schreibtisch steht. Asis lässt den Schreibblock sinken und errötet.
Ali al-Halawi ist ein kleiner, rundlicher Mann mit einem blassen Vollmondgesicht und schmalen, fast chinesisch anmutenden Augen. Als er nun in sein Arbeitszimmer tritt, bewegt er sich wie ein Junge, der nie erwachsen geworden ist. Darin gleicht er seinem Bruder, Dr. Fuad. Doch fehlt ihm die Würde des Arztes. Er strahlt eine geradezu provozierende Sorglosigkeit aus. Asis kann sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie seine Mitarbeiter und Untergebenen diesem Mann die erforderliche Achtung entgegenbringen können.
Der Zollinspektor schaut sich in seinem Arbeitszimmer um, als sähe auch er es zum ersten Mal. Dann kommt er zum Schreibtisch und nimmt Asis das Blatt Papier aus der Hand. Die Hände des Mannes passen nicht recht zu seinem runden, bartlosen Gesicht. Die Finger sind lang und schmal mit sorgfältig geschnittenen Fingernägeln und schwarzen Haarbüscheln auf den Rücken. – Früher wäre Asis das nicht aufgefallen. Wie die meisten Menschen hätte er seinem Gegenüber auf den Mund gestarrt, um seinen Worten zu folgen. Aber nun scheinen ihm die Hände fast wichtiger als der Mund.
Ali schraubt die schwarze Kappe von seinem Füllfederhalter und schreibt in derselben anmutigen Schrift wie beim englischen Zitat einige arabische Zeilen auf den Block. Dann reicht er ihn dem verlegenen Jungen. »Lies, was immer dir gefällt. Doch stell jedes Buch bitte wieder dorthin zurück, wo du es aus dem Regal genommen hast!« – Und wenn nicht, was geschieht dann? Wird Ali ihm dann die Arme abhacken, wie sein Sohn ihm die Finger? – Im Vater glaubt er den Sohn wiederzuerkennen.
»Hast du etwas Bestimmtes gesucht?« – Asis schüttelt den Kopf. Die Augen des Zollinspektors wandern über die Buchrücken. Dann durchquert er mit einigen Schritten das Zimmer, greift nach einem ziegelsteindicken Buch mit grauem Einband, zieht es aus dem Regal und reicht es Asis.
»Vielleicht interessiert dich das.«
Eher widerwillig nimmt Asis es entgegen, ohne es genauer anzublicken. Wofür hält der Mann ihn? Für eine Leseratte! Für einen Stubenhocker wie sein Sohn?
»Wenn es dir gefällt, sorg dich nicht. Der Roman hat noch vier weitere Bände!« – Der Mann muss verrückt sein. Er, der Sohn eines Flickschusters, der bisher nie ein Buch zu Ende gelesen, ja noch nie ein Buch mit so vielen Seiten in der Hand gehalten hat, soll sich auf dreitausend Seiten Fortsetzung freuen?
Die Augen des Zollinspektors funkeln vergnügt, während er eine letzte Mahnung notiert und sie Asis mit ernster Miene vorlegt: »Aber lies nicht bis tief in die Nacht! Du solltest morgen ausgeschlafen sein, wenn ich dich zu deiner neuen Schule bringe!«
Zurück in Saids Zimmer wirft er das Buch achtlos auf das Bett und zieht sich rasch an. Er ist froh, dass Said noch schläft. Früher, als Knabe, hat er sich seines Körpers nie geschämt. Wie oft hat er auf dem Fußballfeld mit bloßem Oberkörper gestanden, die Mannschaft der Nacktbrüste gegen das Trikotteam! – Doch nun waren die Minuten, die er mit nackter Brust vor den Augen des Zollinspektors ausharren musste, die reine Hölle.
Als er seine alten Sportschuhe aus dem Koffer holt, erwacht Said. Der fremde Junge beobachtet, wie Asis seine Füße in die inzwischen viel zu engen Schuhe zu zwängen versucht. Seitdem ihn der Blitz traf, hat er sie kaum noch getragen.
Said schüttelt den Kopf. Er steht auf, geht durchs Zimmer, nur mit seinen Shorts bekleidet, vollkommen unbefangen und ohne jede Scham, und zieht aus seiner Kleidertruhe ein Paar alter Sandalen hervor. »Für Turnschuhe ist Aden viel zu heiß!«, sagt er und streicht sich zur Veranschaulichung des Gesagten mit dem Handrücken über die Stirn. Dann kneift er sich mit Daumen und Zeigefinger die Nase zu, und Asis muss zugeben, dass Said recht hat: Seine alten, ausgetretenen Fußballschuhe riechen erbärmlich. Er wirft sie zurück in den Koffer und probiert Saids Sandalen an. Natürlich sind sie ihm viel zu groß. Er stellt die Riemen enger, und dieses luftige Nichts ist so bequem, dass er es kaum spürt, ja barfuß zu gehen glaubt, wie er es in früher Kindheit gewohnt war, bevor er zur Schule ging. Erst mit der Schulzeit begann die Schuhzeit. Und in den Anfangsjahren war das erste, was er tat, wenn er aus der Schule nach Hause kam, das verhasste Schuhwerk abzustreifen und möglichst weit fortzuwerfen. Sein Vater hat das
Weitere Kostenlose Bücher