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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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verständlicherweise gar nicht gerne gesehen. Aber die einzigen Schuhe, die er freiwillig und gerne trug, waren seine Fußballschuhe.

22
    Da er nichts zu tun hat, nimmt er das Buch und verlässt das Haus. Das Haus bedrückt ihn. Und im Verlauf des Vormittags hat es ein wenig aufgeklart. Die feuchten Schwaden haben sich zwar nicht aufgelöst, sind aber hinaufgestiegen und bilden nun einen hohen Schleier, durch den eine blasse Sonne zu sehen ist. Der Himmel behält diesen hellgrauen Ton, und schon jetzt, bevor die Sonne überhaupt ihren höchsten Stand erreicht hat, ist Asis froh über diesen schützenden Schleier aus feinem Dunst. Er versteht nun, warum die Adener den bewölkten Himmel ›gutes Wetter‹ und den wolkenlosen Himmel ›schlechtes Wetter‹ nennen. Dort, wo der Wolkenschleier einmal reißt, und die Sonne ungefiltert auf die Stadt trifft, bleibt den Bewohnern nur, im Schatten oder in ihren Häusern Schutz zu suchen.
    Asis will nicht an den nächsten Tag denken, seinen ersten Schultag in der Adener Gehörlosenschule. Er kommt sich kindisch und lächerlich vor, ein fast Fünfzehnjähriger, der sich wie ein Sechsjähriger vor dem ersten Schulbesuch fürchtet. Er versucht, seine Gedanken auf die einfachen Dinge zu lenken, Essen, Trinken, Schlafen, sich vor der Sonne schützen.
    Direkt gegenüber dem Haus der Halawis befindet sich das Café Sakran. Vermutlich sind alle Hausbewohner vom Lärm, der morgens um fünf mit den ersten Tages- oder letzten Nachtarbeitern einsetzt und bis zum Nachtgebet dauert, zutiefst genervt. Nur Asis kann von Glück sagen, dass ihn dieser ständige Lärm nicht kümmern muss. Es ist verwirrend. Die Verbitterung macht ihn tauber, als er ist. Er muss sich eingestehen, dass es doch nur die Ohren sind, deren Sinn unwiederbringlich verloren ist, und nicht die Haut, die Knochen, das Herz, für deren Taubheit er selber verantwortlich ist. Er sieht doch die Bewegung der Gäste, das Aneinanderstoßen der Gläser, den Aufruhr in den Gesichtern, er sieht doch den hier herrschenden Lärm.
    Er setzt sich an einen Tisch im Schatten der Markise und bestellt mit einem kurzen Nicken ein Glas Tee. Er freut sich auf dieses erste Glas Tee des Tages, nachdem er am Morgen nicht gewagt hat, sich in der Küche der Halawis einen Tee zu kochen. Sein Blick fällt auf sein neues Zuhause. Es ist eines der ältesten Häuser in der Straße, noch mit den ursprünglichen Holzbalkonen und den geschnitzten Fensterläden versehen. Der Laden im Erdgeschoss ist an einen Tuchhändler vermietet. Auf dem flachen Dach befindet sich eine Art Laube aus Palmwedeln, doch wird sie wahrscheinlich nur selten genutzt, weil inzwischen alle benachbarten Häuser das zweistöckige Haus der Halawis um ein oder zwei Stockwerke überragen und man von diesen ungehindert auf die Dachterrasse blicken kann. Alis Haus hat noch die ursprüngliche Höhe der Gebäude in Crater, und der Hausherr weigert sich offenbar, es ständig um- und weiterzubauen.
    Es ist ein Haus ohne Glasfenster und Klimaanlage. Die filigranen Holzläden aus fast schwarzem Nussbaum sorgen für Schatten und eine ständige leichte Luftbewegung. Aber so kann natürlich auch der Lärm und der Staub der Straße ungehindert in die dämmrigen Räume eindringen, Lärm, den es bei der Errichtung des Hauses noch nicht gab, Motorenbrummen, Autohupen, Polizeisirenen, Kreissägen, Radio- und Fernsehgeplärr, das ständige, Aufmerksamkeit heischende Trommeln der Gasflaschenverkäufer, die mit ihren Schraubenschlüsseln auf die rostigen Metallbehälter in ihren Schubkarren schlagen, mehr oder weniger rhythmisch, aber immer nervtötend, zumindest für den, der hören kann.
    Doch glaubt Asis nun zu verstehen, warum Lärm, Staub und Hitze den Zollinspektor nicht wirklich veranlassen können, dieses besondere Haus aufzugeben.
    Der junge, vielleicht zwölfjährige Kellner bringt ihm das Glas und lässt beim Aufsetzen den heißen Tee ungeschickt auf den Holztisch schwappen. Mit einer blitzschnellen Geste rettet Asis das geborgte Buch vor ersten untilgbaren Flecken. Als der Junge lächelt, zeigen sich seine Zähne von einem merkwürdigen metallischen Ausschlag befallen. Auf jedem Zahn, den Asis sieht, hockt ein warzengroßer silbriger Knopf, und zwischen den Zähnen verlaufen Drähte, als würde das ganze Gebiss von dieser Niet- und Drahtapparatur zusammengehalten. – Zum ersten Mal in seinem Leben sieht Asis eine Zahnspange.
    Selbst eine so einfache Sache wie das Abwischen eines Tisches muss

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