Die Laute (German Edition)
anscheinend erlernt werden. Dieser junge, sorglose Kellner oder Hilfskellner hat es offenbar noch nicht gelernt. Geradezu tollpatschig gießt er aus einer Plastikkanne einen großen Schwall Wasser auf die Tischplatte, sodass die Gäste verärgert aufspringen. Dann tunkt er den teebraunen Putzlappen in die Pfütze, wischt hier ein wenig und dort ein wenig und verteilt Brotkrümel, Teebeutel, Pistazienschalen und Fliegenkadaver gleichmäßig auf dem abgestoßenen Plastikbezug. Während dieser konzentrierten Tätigkeit scheint er mit offenen Augen zu träumen.
Dabei wäre doch nichts selbstverständlicher, einsichtiger und leichter zu verrichten, als mit einer einfachen Bewegung die Schmutzlache vom Tisch zu wischen. Aber es muss erst ein älterer Kellner, vielleicht in Asis’ Alter, dem jüngeren vormachen, wie man das zerfranste Wischtuch auswringt und dann mit zielgerichteten Bewegungen über den Tischrand hinaus die unappetitlichen Abfälle vom Tisch fegt und der Schwerkraft anvertraut.
Er hat genug gesehen. Seufzend über so viel Unverstand senkt Asis den Blick und widmet sich nun dem Buch, das schwer wie eine Hantel in seinem Schoß ruht. Er schlägt es auf und beginnt zu lesen. Er war immer ein langsamer Leser, und eine Buchseite hat ihn mehr ermüdet als ein neunzigminütiges Fußballspiel.
Dieses Buch scheint besonders anstrengend zu sein. Er hat Mühe, die ersten Sätze auch nur zu verstehen. Die Sprache ist altmodisch, wie die des Korans, findet er. Obwohl die Geschichte auf einem anderen Kontinent und zu einer anderen Zeit spielt, stößt er in ihr, wie in dem Heiligen Buch, auf viele Wörter, die in seinem Alltag nicht vorkommen:
edelmütig, wahrhaftig, gottgefällig
, oder auch ihr Gegenteil,
liederlich, verlogen, gottlos
. So schwerfällig ihm die Sprache erscheint, glaubt er doch schon nach wenigen Zeilen zu wissen, wer der Gute und wer der Böse ist. Hurry Harry, der Ältere, ist stolz darauf, schon einige Menschen getötet zu haben, und fordert von dem Jüngeren, Natty Bumppo, endlich ähnliche Beweise seines Mannesmutes zu liefern. Das erinnert Asis an manches Gespräch der Kabilen in den Dörfern, deren höchster Lebenszweck ebenfalls der Krieg zu sein scheint. Zwar klingt der Name des Verfassers dieser Geschichte keineswegs arabisch, aber er muss wohl, zumindest im Grunde seines Herzens, Jemenit gewesen sein. Setzt man für ›Rothäute‹ ›Stammeskrieger‹, könnte die Geschichte durchaus in der Umgebung von Ibb spielen.
»Diese Rothäute,« sagte Hurry, »sind merkwürdige Prahler, und ich behaupte, mehr als die Hälfte ihrer Überlieferungen sind reine Erdichtungen.«
»Es ist etwas Wahres in dem, was ihr sagt, Hurry, ich will es nicht leugnen. Ja, sie prahlen, aber das ist eben eine Gabe der Natur, und es ist sündhaft, natürliche Gaben zu unterdrücken.«
23
Die Nächte in Aden sind kaum kühler als die Tage. In vielen Häusern brennt noch Licht, denn die meisten Leute schlafen bei dieser Hitze wenig oder schlecht. Ob sie dann wohl lesen? Und sich von den Geschichten genauso entführen lassen wie er?
Die Sohle seines Turnschuhs ist blutverschmiert, denn er hat damit bereits ein Dutzend Mücken erschlagen, die vom Licht angezogen sich in seiner Ecke sammeln. Said hat bisher kein Wort über die Mückenkadaver und Blutspritzer an der weißgekalkten Zimmerwand verloren. Vielleicht hat er das Massaker gar nicht wahrgenommen, die Kopfhörer über die Ohren gestülpt, den Blick starr auf den Computermonitor gerichtet und vollkommen in die eigenen Massaker eingetaucht.
Selbst als Asis das Buch längst zugeschlagen und beiseite gelegt hat, liegt er noch lange wach und lauscht in die Stille um ihn herum. Nur die Vibration vereinzelter Wagen auf der Straße vor dem Haus und Schritte in benachbarten Räumen nimmt er wahr, die schnellen, energischen Schritte Alis, dann die Schritte der Frauen des Hauses, merkwürdigerweise härter, fester als die Alis, als würden sie mit den Hacken zuerst auftreten und nicht auf Mohikanerart durchs Haus pirschen.
Noch kennt Asis nicht alle Bewohner des Hauses, aber jene, die er kennt, weiß er bereits an ihren Schritten zu unterscheiden. Ali liebt (wie Hurry Harry?) die raschen, heftigen Erschütterungen, selbst wenn er barfuß durch das Haus stapft. Während Said, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht auch aus Scham über das Maß seiner Füße, wie Nathaniel Bumppo umherschleicht. Manchmal erschrickt Asis, wenn Said unhörbar ins Zimmer kommt und
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