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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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»Miteinander quatschen.«
    »Mit diesem Typen da?« – Asis weist auf den Monitor. Ein junger Mann, das Haar kurz geschoren, mit vage vertrauten Gesichtszügen und einem kühlen und zugleich verwirrten Blick scheint ihn aus dem Bildschirm heraus direkt in die Augen zu starren.
    »Das ist Mussa. Seine Kompanie ist in Sanaa stationiert.«
    »Mussa? Wer ist Mussa?«
    »Das ist der Typ, in dessen Bett du gerade schläfst. Mein älterer Bruder!«
    Asis errötet, während sich auf Saids Gesicht der Ärger verflüchtigt und ein freches Grinsen ausbreitet.
    Auch der junge Soldat auf dem Computermonitor lächelt nun.
    »Er kann uns sehen?«
    »Klar. Er sitzt gerade in einem Internetcafé am Tahrir-Platz und glotzt in seine Webcam.«
    »Was ist eine Webcam?«
    »Eine kleine Kamera wie diese hier.« Said zeigt auf das kleine Fischauge an der Stirn seines Computerbildschirms.
    »Ihr könnt euch also nicht nur hören, sondern auch sehen?«
    »Das siehst du doch!« – Said zwinkert dem grobkörnigen Gesicht auf dem Bildschirm zu, und sein Bruder in Sanaa zwinkert zurück.
    »Das ganze ist also wie ein Telefon mit Bildschirm?«
    Said seufzt über so viel Begriffsstutzigkeit.
    »Wenn du so willst, ja. Eine Art Videofon sozusagen.«
    Asis ist verwirrt und aufgeregt. Er fühlt sich tatsächlich wie der unerfahrene Junge aus der Provinz, wo man noch im Freien Fußball spielt, statt vor dem Computer zu hocken und Tasten zu drücken. Noch ist ihm nicht ganz klar, was ihn so erregt. Doch Said scheint es bereits begriffen zu haben.
    »Okay, ich zeig dir, wie es funktioniert. Für die Verbindung zu deinen Freunden musst du selber sorgen!«

27
    Die Hände formen nur einen Teil der Worte. Der Gesichtsausdruck ergänzt sie, gibt ihnen Farbe und Feinheit. Was zunächst wie eine Zirkusnummer aussieht, ist ein ausgefeiltes Gespräch, wenn auch mit einer ganz eigenen Grammatik: Ghufran aus Aden, schau, dunkle Haut, Süden. Und du? Sanaa? Ibb. Ibb? Regen. Grüne Berge. Wie alt bist du? Hattest du schon mal eine Freundin? Halt den Mund, Ghufran. So etwas fragt man nicht! Warum? Asis ist fünfzehn. Mit fünfzehn heiraten die Jungen im Norden! In den Dörfern vielleicht. Aber nicht in den Städten. Dort sind sie älter. Müssen erst eine Arbeit finden. Das ist Hafis, Hafis aus Abjan. In seinem Dorf sind alle taub. Unsinn. Aber alle sprechen die Gebärdensprache. Ja, die meisten. Und das ist Mansur. Er ist arm. Seine Mutter kommt aus Somalia. Und sein Vater? Ist tot. Krieg in Somalia. Und das ist Daud. Er ist verrückt. Verrückt? Auch nicht verrückter als du, Mansur. Halt den Mund, Ghufran. Er malt. Was ist daran verrückt? Du hast seine Bilder noch nicht gesehen! Nichts darauf ist wahr! Wahr? So, wie es wirklich aussieht. Die Bäume sind rot. Und die Berge fliegen. Ich habe es gesehen. Geträumt. Na und? Seid ruhig, der Lehrer kommt! Kannst du schwimmen, Asis? Nein? Am Wochenende gehen wir an den Strand. Ich bring dir Schwimmen bei!
    Asis beobachtet, mit welcher Leichtigkeit und Unbeschwertheit seine Kameraden sich in Gebärdensprache unterhalten. Aber die meisten, denkt er, wissen ja auch gar nicht, was sie vermissen sollen, da sie von Geburt an taub sind und nie Vogelgezwitscher oder ein Liebeslied gehört haben.
    Noch kann er sich nicht vorstellen, wie man mit diesen einfachen Gesten so etwas Kompliziertes wie
Unglauben, Liebeskummer
oder
Todessehnsucht
ausdrücken kann. Wie es möglich sein soll, ein Streitgespräch über das Recht der Frauen auf Scheidung oder die Gefahren des Internets für die Moral der Jugend zu führen.
    Haben seine Kameraden überhaupt einen Begriff von Moral, eine Vorstellung von Gott, ein Gefühl für Vergangenheit und Zukunft? Braucht man dafür nicht Wörter? Er jedenfalls denkt nur in Wörtern, auch wenn sie ihm langsam verloren zu gehen drohen. Vielleicht rettet ihn das Lesen ja vor dem Wortverlust.
    So, wie er sie beobachtet, beobachten sie ihn, alle jünger als er, und doch ist er der Anfänger, der Analphabet unter ihnen. Müsste er dieses Gebärdenwirrwarr in Geräusche übersetzen, würde es wie das Stimmen der Instrumente vor dem Konzert klingen, jeder zupft, bläst, klimpert ein paar Töne vor sich hin, für einen Außenstehenden aber ist nur eine undurchsichtige Klangwolke zu hören.
    Doch schälen sich bereits einzelne Motive und Melodien aus dem chaotischen Gebärdenlärm. Der Name für Ghufran ist die rechte Hand auf der Brust, weil er den durchtrainierten Körper eines Schwimmers mit stark

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