Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
Vom Netzwerk:
ausgebildeten Brustmuskeln hat. Amirs Gebärdenname ist der rechte Zeigefinger am Hals, weil sich dort eine alte Mumpsnarbe befindet. Mansur muss sich als ›Fingerrücken an der Nase‹ bezeichnen lassen, weil er sich ständig mit dem Fingerrücken einen Rotztropfen von der Nase wischt.
    Für die Hörenden mag es böse oder hämisch aussehen, dass die Gehörlosen ohne jede Scham offenkundige Schwächen oder Makel wählen, um ihre tauben Kameraden (und nicht nur sie) zu benennen. Aber niemand unter ihnen fühlt sich dadurch angegriffen oder verletzt. Es geht ihnen einfach nur um eine rasche und unmissverständliche Verständigung. Und da ist eine gebrochene Nase oder ein abstehendes Ohr nun mal anschaulicher als ein hübscher Mund oder lockiges Haar.
    Der neue Klassenlehrer, Akram Salah Aiub, hat bereits die Gebärde für das ›Direktorenbaby‹ verliehen bekommen, weil er noch so jung und schüchtern ist und bei der ersten Begegnung eben diesen Eindruck vermittelt hat. Der Staatspräsident heißt ›Eine Ewigkeit‹, weil unter den Schülern keiner je einen anderen Landesführer gekannt hat. – Für Asis wirkt das alles, als sei er unter die Indianer geraten, die einander ja auch sehr anschauliche Namen geben wie ›Adlernase‹, ›Grüne Wolke‹ oder ›Der mit dem Wolf tanzt‹.
    In der Pause beherrscht nur ein Thema das Gespräch: Das neue Lieblingsspiel von Faisal und Abdullah, öffentliche Schaukämpfe zwischen ihnen und einem von ›drüben‹, also einem Schüler von der Gehörlosenschule, in der Regel natürlich jünger und auf jeden Fall schmächtiger als Faisal.
    Unter Asis’ Mitschülern breitet sich Panik aus, nachdem bereits zwei oder drei Gehörlose aus anderen Klassen dieses ›Spiel‹ erdulden mussten. Amir war einer Verschleppung auf die andere Seite nur in letzter Sekunde entkommen, weil das ›Direktorenbaby‹ gerade Pausendienst hatte. Aber Jassir hat es böse erwischt. Er wollte nicht kämpfen und hat sich am Anfang gar nicht gewehrt, selbst als Abdullah ihm mehrfach ins Gesicht schlug. Aber dann hat Faisal ihn in seinen berühmten Schwitzkasten genommen, und Abdullah hat begonnen, Jassir vor aller Augen auszuziehen.
    Verglichen mit seinen früheren Mitschülern, so Asis’ erster Eindruck, verlieren seine neuen Kameraden nur selten die Geduld. Das geduldige Hinschauen und Gebärden ist ja ein unverzichtbarer Teil ihres Alltags. Aber nun scheint Amir wirklich außer sich. Seine Taubheit wirkt plötzlich wie ein Pfropfen, jede Ader scheint von Kohlensäure durchflutet. Wer ihn jetzt schüttelt oder auch nur zu heftig anstößt, läuft Gefahr, Opfer einer Explosion zu werden.
    Asis selbst ist nach wie vor gelassen. Solche Geschichten gehörten in seiner vorangegangenen Schule zum Alltag. Die jungen Gehörlosen wissen offenbar noch nicht viel von der Bosheit der Welt. In seiner Klasse ist es bisher, abgesehen von der Wildheit mancher Gebärden, außerordentlich friedvoll zugegangen. Es gibt keine Gemeinheiten, keine Schikanen unter den Mitschülern, Scherze natürlich, manchmal auch kleine Raufereien, doch niemals eine absichtsvolle Grausamkeit.
    Amir winkt Jassir, Faisals Opfer, zu sich. Jassir ist noch jünger und zarter als Amir. Von dem, was Faisal und Abdullah ihm angetan haben, kann er selbst nicht berichten. Beide Hände sind verbunden.
    Asis spürt, wie die Wut in ihm hochkocht, ihn überschwemmt, Wut, die sich zur Überraschung seiner Gefährten zunächst nur in Tränen äußert, Wut auf diese Tränen, Wut auf die überraschten Gesichter der Klassenkameraden, auf die eingegipsten Hände Jassirs, und vor allem natürlich Wut auf jene Kerle, die daran Schuld sind, Wut auf Jassirs verängstigtes Gesicht, auf die eigene Gleichgültigkeit und Taubheit und Mutlosigkeit.
    »Kennt ihr das Café Sakran in Crater?« Asis schreibt den Namen auf. Amir und die anderen nicken. »Wir treffen uns dort nach dem Abendgebet!«

28
    »Was ist euer Name?«
    »Das ist eine Frage, die sich leichter tun als beantworten lässt, junge Frau, in Betracht, dass ich noch so jung bin und doch schon mehr Namen getragen habe als manche der größten Häuptlinge!«
    »Aber ihr habt doch einen Namen? Ihr werft doch nicht einen Namen weg, bevor Ihr auf ehrliche Weise zu einem neuen Namen gekommen seid?«
    »Ich hoffe es, junge Frau. Meine Namen sind mir natürlich gekommen, und ich denke, derjenige, den ich jetzt trage, wird nicht von langer Dauer sein; denn die Delawaren bestimmen selten den wahren Namen und Titel

Weitere Kostenlose Bücher