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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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plötzlich wissen? Warum erfüllt es ihn auf einmal mit Freude, wie ein kleines Kind von Amir all das neu zu lernen, was er in einer anderen Sprache längst beherrschte? Warum berührt ihn dieses Gebärdenspiel dermaßen, dass er plötzlich in Tränen ausbricht?

26
    »Nein, nein, Wildtöter, Ihr seid keine Schönheit, wie ihr selbst bekennen werdet, wenn Ihr über das Kanu hinausschauen wollt«, ruft Hurry seinem Gefährten zu. Aber er hat unrecht, denkt Asis, auch wenn Wildtöter Hurry Harry vermeintlich zuzustimmen scheint: »Ich will nicht leugnen, dass auch ich den Wunsch gehabt habe, gut auszusehen. Aber ich habe doch immer diesen Wunsch zu unterdrücken vermocht durch die Erinnerung an die vielen, die ich gekannt habe, mit schönen Außenseiten, die aber innerlich nichts besaßen, sich dessen rühmen zu können.«
    Dieser eitle Hurry versteht die Ironie nicht. Nein, er versteht auch das Wesen der Schönheit nicht! – Asis lässt sich von Hurrys gemeinen Bemerkungen nicht das Bild von Nathaniel Bumppo, dem Wildtöter, zerstören. Er kennt Nathaniel inzwischen besser, als Hurry ihn zu kennen glaubt, und nebenbei bemerkt kennt er auch Hurry Harry inzwischen bis in die dunkelsten Ecken seiner Seele. Von der ersten Seite an, auf der er in die Erzählung tritt, hat Asis seinen zweifelhaften Charakter durchschaut. – Der Wildtöter hingegen, und da hat Asis den Verfasser des Romans ganz auf seiner Seite (aber selbst von ihm würde er über Wildtöter kein schlechtes Wort mehr dulden, nun, da er ihn so gut kennen und lieben gelernt hat!), der Wildtöter mag zwar kleiner und schmächtiger als sein zwielichtiger Gefährte sein, aber sein Körper ist muskulös, geschmeidig und gewandt, und sein Gesicht ernst, lauter und wahrhaftig, dass Leute wie Hurry Harry es fast für einfältig halten könnten und unfähig, zwischen Trug und Wahrheit zu unterscheiden. Aber er ist doch noch jung, kaum zwanzig Jahre alt, und wird es dem Schurken im Verlauf der Geschichte schon noch beweisen, dass er zwar ohne jede Falschheit ist, aber deswegen noch lange nicht ohne Mut und Klugheit und ohne Sinn für Gerechtigkeit.
    Nach all der Mühe, in diese fremde, altertümliche Sprache mit ihren langen, komplizierten Sätzen hineinzufinden, beginnt er nun, die alten ungebräuchlichen Wörter wie
Einfalt, Trug, Zwielicht
oder
Lauterkeit
zu mögen. Sie passen zur Geschichte, findet er, und geben ihr erst den richtigen – Klang! Ja, auch wenn er still für sich liest und die Wörter nicht mehr hört, haben sie doch noch so etwas wie einen Klang, der mehr umfasst, als das Ohr normalerweise wahrnimmt.
    So sehr hat ihn dieses Kapitel berührt, dass er es Said zeigen muss. Doch Said wendet nicht einmal den Kopf vom Bildschirm ab, als Asis ihm das dicke Buch auf die Computertastatur legt. Den ganzen Tag über hält Said die Holzläden zur Straße hin geschlossen, nicht der Hitze wegen, sondern um in dieser dämmrigen Höhle ganz mit seinem Computer allein zu sein, Der Monitor ist für ihn das einzige Fenster zu einer Welt außerhalb ihrer vier Wände.
    Nun stößt Asis die Läden auf, und neben einer Lichtflut dringt auch so etwas wie eine nachmittägliche Brise ins Zimmer. Er kann den langgestreckten Strand der Corniche erahnen und das Meer, das um diese Zeit die Blässe eines Toten haben muss.
    Er kehrt zu Saids Schreibtisch zurück und reißt seinem Zimmergenossen die Kopfhörer von den Ohren.
    Endlich blickt Said ihn an, mehr erstaunt als verärgert über Asis’ merkwürdiges Verhalten.
    »Was machst du da eigentlich die ganze Zeit?«, schreibt Asis auf den Notizblock, der immer bereit liegt, seit er hier eingezogen ist, von beiden bisher aber kaum genutzt wurde.
    Einige Sekunden blickt Said prüfend in das erregte Gesicht des bisher so stillen Gastes. Womöglich hat ihn irgendein gefährlicher Virus erwischt! Dann klappt er, schließlich doch verärgert, das Buch zu, nimmt es von der Tastatur und knallt es Asis vor die Brust.
    »Ich chatte!«, kritzelt er dann auf den Block, flüchtig, kaum leserlich, als sei es das Selbstverständlichste der Welt, und stülpt sich wieder seine Kopfhörer über.
    So leicht lässt sich Asis heute nicht entmutigen. Eine Art Wortfieber hat ihn gepackt.
    »Was ist das: chatten?«, schreibt er und stößt Said an. Als Said nicht reagiert, macht er es wie Amir, nimmt Saids Kopf in beide Hände und dreht ihn zu sich.
    Mit der mitleidsvollen Miene, mit der man nicht mehr zu Rettenden begegnet, schreibt Said:

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