Die Laute (German Edition)
aufeinander, auch wenn die einzelnen Gruppen in der Regel unter sich bleiben. Was hätten sie einander auch schon zu sagen! Für die Hörenden ist Taubheit wesensgleich mit Dummheit. Man braucht doch nur die unverständlichen, ja animalischen Laute zu hören, die aus den Mündern dieser Tauben dringen! Und wie sie mit ihren Händen herumfuchteln und Grimassen schneiden! Sie sollen sich nur nicht auf die Schulhofhälfte der Hörenden wagen. Dass man sie überhaupt zur Schule gehen lässt! Was können sie schon lernen, so taub wie sie sind!
Asis steht am Rand des Pausenhofs. Er erkennt die Gesichter derjenigen, die dazugehören, und jener, die nicht dazugehören. Die Dazugehörenden verhalten sich freier, gestenreicher, entspannter. Die anderen, am Rand wie er selbst, blicken düster, halten die Köpfe gesenkt und hängen ihren eigenen Gedanken nach. Sie wirken verletzlich, weil sie alleine dastehen. – Früher hat Asis sie nicht einmal wahrgenommen. Früher hat er immer dazugehört.
Die meisten der wesentlich jüngeren Mitschüler unterhalten sich angeregt mit Gesten und Grimassen, als handle es sich bei ihren Verrenkungen um eine ganz normale Sprache. Er versteht nichts und will auch nichts verstehen. Eigentlich gehört er ja auf die andere Seite des Schulhofs.
Es sieht so einfach aus, es müsste doch leicht zu lernen sein. Benutzen nicht alle Menschen Gesten? Aber er begreift schnell, dass die Gebärden, die seine Mitschüler benutzen, mehr sind als Alltagsgesten. Manche sind Zeichen für etwas anderes, wie Wörter, gestische Wörter sozusagen.
Ganz unvermittelt überschwemmt ihn ein Gefühl der Verzweiflung. Dieses Schreiben im Raum beruht auf ganz anderen Fähigkeiten als das Sprechen, Fertigkeiten, die seine Mitschüler wahrscheinlich schon in einem Alter erlernt haben, in dem er selbst gerade
Ima
und
Aba
zu sagen versuchte. Wie soll er nun noch in dieses gestische, räumliche Sprechen hineinfinden? Auf einmal erscheint es ihm schwieriger, als in seinem Alter noch Chinesisch zu lernen.
Er beobachtet sie aus den Augenwinkeln. Sie direkt anzublicken hieße, mit ihnen in Verbindung zu treten. Selbst ›Versprecher‹ scheint es in ihrer Sprache zu geben, Vertauschungen, fehlerhafte Bewegungen oder Handstellungen, als habe diese Sprache sogar eine eigene, räumliche Grammatik, mit der man spielen könne. Einige brachen in Gelächter aus. Nicht über ihn, Asis, sondern über einen Gebärdenwitz oder ein lustiges Gestenspiel. Er würde sich nicht wundern, wenn es unter ihnen auch Gebärdenstotterer oder Gebärdenclowns gäbe. – Aber er will nicht noch einmal ganz von vorne beginnen!
Nun kommt dieser Junge aus seiner Klasse, Amir, auf ihn zu. Will er Asis denn gar nicht mehr in Ruhe lassen? – Amir scheint ihn vor etwas warnen zu wollen. Doch niemand muss Asis die unausgesprochenen Grenzverläufe erklären. Er versteht dieses territoriale Denken nur zu gut.
Die meisten hörenden Schüler ignorieren die Gehörlosen einfach, was ihnen auch nicht besonders schwer fällt, da niemand von der anderen Seite je in ihr Territorium eindringen würde, nur um mit ihnen ein Gespräch anzuknüpfen.
Amir nickt. Ja, genauso verhält es sich. Und diese stille Übereinkunft gegenseitiger Nichtbeachtung, gebärdet er, zumindest versteht Asis ihn so, hätte auch endlos weiter bestehen können, gäbe es auf der anderen Seite nicht einige zu groß geratene Schüler, die ihre geistige Beschränktheit mit roher Kraft und Brutalität aufzuwiegen versuchten. – Asis muss über Amirs anschauliches Gebärdenspiel lächeln, rein innerlich, versteht sich. Sein Gesicht bleibt vollkommen ausdruckslos.
Er schaut sich die beiden Burschen auf der hörenden Seite, vor denen Amir ihn zu warnen versucht, genauer an. Faisal ist ungefähr in Asis’ Alter und wie Asis viel zu groß für seine zwei, drei Jahre jüngeren Mitschüler. Aber es gibt vermutlich andere Gründe als bei Asis, dass man ihn in eine so niedrige Klasse gesteckt hat. Seine Mitschüler nennen ihn
Milh
, Salz, erfährt er von Amir, vielleicht deshalb, weil sie seinetwegen bereits Ströme salziger Tränen vergossen haben.
Asis beobachtet ihn ohne besonderes Interesse. Er hat keine Angst. Vor nichts und niemandem. Er kennt diese Typen noch aus seiner alten Schule, aber hatte eigentlich nie mit ihnen zu tun. Sie haben ihn immer in Ruhe gelassen, weil sie wussten, dass man sich besser nicht mit ihm anlegt. Und natürlich hatte er Freunde, seine Mannschaftskameraden, mit denen
Weitere Kostenlose Bücher