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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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zurückzuweisen. Dann steht der Alte auf, nimmt seinen Stock und geht, ohne sich noch einmal nach Asis umzublicken.
    Endlich kommen seine Freunde, zunächst Amir, kurz darauf der Fischersohn Ghufran und der Flüchtlingsjunge Mansur, und schließlich Hafis aus dem Dorf der Taubstummen und Daud, der Maler.
    Natürlich ist der Wirt nicht glücklich über diese Bande. Sie nehmen zwar niemandem einen Platz weg, um diese Zeit sind redliche Männer zu Hause bei ihren Familien. Aber sie scheinen genau das zu sein, was sie tatsächlich sind, Schüler ohne viel Geld, die nun die halbe Nacht vor einem Glas Tee in seinem Café herumsitzen werden.
    Vielleicht fürchtet er auch, andere Tische blieben ihretwegen frei, weil die Stammgäste sich von ihren wilden Gebärden gestört fühlen könnten.
    Asis weiß, dass er vor noch gar nicht langer Zeit eine Bande taubstummer Jugendlicher ebenfalls noch merkwürdig gefunden hätte, auch wenn ihre Gesten, sobald Hörende anwesend sind, zurückhaltender werden. Doch wie schnell kann man das begleitende Mienenspiel für ein unkontrolliertes Grimassieren halten! So viele Vorurteile haben damit zu tun, denkt er, dass man die Sprache des anderen nicht versteht.
    Darüber hinaus sind Taubstumme in der Regel ja nicht stumm. Alle bis auf Asis begleiten ihre Gebärden mit mehr oder weniger ausdrucksstarken Lauten. Es gibt bei ihnen natürlich dieselbe Lust am Rufen und Schreien wie bei allen Menschen. Nur dass sie sich selbst nicht hören. Aber sie wissen, dass viele Hörende verunsichert oder gar abfällig auf diese Laute reagieren. Doch sind die lauten und barschen, von einem Ende der Straße bis zum anderen dröhnenden Stimmen der hörenden Gäste mit ihren Anzüglichkeiten, ihren politischen Vereinfachungen und ihren schalen Witzen etwa leichter zu ertragen?
    Trotzdem rechnet Asis jeden Augenblick damit, dass der mürrische Wirt mit ihnen die Geduld verliert und ihnen die Rechnung vorlegt.
    Wenn Amir und die anderen etwas von der Spannung spüren sollten, zeigen sie es mit keiner Regung. Sie geben sich so selbstbewusst, als seien sie unter sich. Oder warten sie nur darauf, von der Welt der Hörenden böse angefahren zu werden? Jeder von ihnen hat damit sicher unzählige Erfahrungen gemacht.
    Es braucht eine Weile, bis sie die drängendsten Neuigkeiten losgeworden sind und ihre Aufmerksamkeit endlich Asis zuwenden. Asis fragt sich, ob ein ausländischer Gehörloser, ein Amerikaner zum Beispiel, gleich in ein Gespräch mit ihnen eintreten könnte. Denn ihr Gebärdensystem ist ja immer noch durchsetzt von Worten, die zwar nicht ausgesprochen, aber mit Lippen und Zunge angedeutet werden. Selbst wenn man sich nicht auf Anhieb verstünde, würde der Gehörlose die fremden Gebärden doch schneller erlernen als ein Hörender die fremde Lautsprache, glaubt er, während er dem Klatsch seiner Freunde folgt.
    Der Mond steht bereits voll und rund am Adener Nachthimmel. Am Abend klart es oft auf, bis sich am frühen Morgen wieder Hochnebel bilden, die den halben Tag verschatten. Und für ›gutes‹ Wetter sorgen.
    Asis zeigt auf den Mond und dann auf sie. Er versucht, ihnen zu erklären, dass dies die Nacht der Verwandlung sei, in der aus harmlosen Schülern Vampire und Werwölfe würden. Er weist auf Amirs Narben am Hals und bleckt dann die Zähne. Die anderen schauen ihn verständnislos an.
    Er erzählt ihnen gestenreich, ohne die exakten Gebärden schon zu kennen, dass jeder, der von einem Werwolf angegriffen oder von einem Vampir gebissen werde, sich selber in einen Werwolf oder Vampir verwandle. Er schreibt die Wörter ›Werwolf‹ und ›Vampir‹ mit dem Finger auf den Caféhaustisch, doch führt das nur zu einem weiteren zweifelhaften Blickwechsel unter ihnen. Sie wissen natürlich, woher Amirs Narben stammen. Was hat das mit Vampiren und Werwölfen zu tun?
    Als er merkt, dass seine Geschichten – oder auch er selbst – den ersten unheimlich werden, bricht er ab und wird ernst: »Lasst uns über den morgigen Schultag reden!«

29
    Kann man diese Stadt lieben? Die Kameraden behaupten es, so wie sie behaupten, ihre Väter zu lieben, oder ihren Glauben, ihren Präsidenten, ihre Nationalmannschaft. Dabei weiß Asis, dass in den meisten Familien der Vater ein übellauniger Tyrann ist, dass die meisten seiner Kameraden weder die Moschee besuchen noch die Pflichtgebete einhalten, dass sie, wie der Großteil der Adener, ihren Präsidenten für korrupt und unfähig halten und dass es für einen Jemeniten

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