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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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jeder es zu tun bekommen hätte, der ihn auch nur schief angeschaut hätte.
    Faisal scheint außerordentlich geschickt im Schlagen zu sein. Er versteht es, höchst schmerzhafte Fausthiebe und Tritte an Körperstellen auszuteilen, wo sie keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Asis sind diese Tricks vom Fußballplatz vertraut.
    Sein ständiger Gefährte, Abdullah, ist etwas jünger und schmalschultriger als sein Herr und Meister. Aber Asis glaubt nicht, dass Abdullah deswegen friedfertiger wäre. Er gehört zu jenen Typen, die versuchen, ihre Freunde durch besondere Niedertracht zu beeindrucken. Amir erzählt, wie Abdullah nach Schulschluss einen streunenden Hund auf den Pausenhof gelockt und vor den Augen Milhs und anderer Klassenkameraden am Basketballkorb aufgehängt habe. Das sei noch gar nicht lange her.
    Der Hund habe länger als eine Stunde herumgezappelt, ehe er erstickt sei. Und Faisal habe jeden mit seinem Messer bedroht, der den Hund befreien wollte. – Lehrerin Hannah habe ihn am nächsten Morgen vor dem Unterricht abgeschnitten.
    Asis folgt Amirs Gebärdenspiel vollkommen unbeeindruckt. Gut, er versteht Amirs Empörung, aber so sind die Menschen nun einmal, nicht nur Hunden gegenüber.
    Nun, da die Hunde der Umgebung die Schule mieden, fährt Amir fort, hätten Faisal und Abdullah nach neuen Opfern Ausschau gehalten. Nun sei ihre Lieblingsbeschäftigung, Schüler der Gehörlosenschule nach dem Unterricht abzufangen und mit ihnen ihre Spiele zu treiben.
    Asis zuckt gleichgültig mit den Schultern. Was geht ihn das an? Ihn werden sie schon in Ruhe lassen! – Er schaut auf seine Hände. Zum Saitenspiel sind sie nicht mehr zu gebrauchen. Doch für eine Prügelei sind sie immer noch gut genug!
    Asis verlässt als letzter die Klasse. Doch Amir hat auf ihn gewartet. »Wo musst du hin?« fragt er.
    »Nach Crater,«, antwortet Asis widerwillig.
    »Gut, dann kann ich dich ein Stück begleiten.«
    Asis ist von diesem Angebot nicht gerade begeistert. Wahrscheinlich hat Amir nur Angst, die beiden Burschen von der Nachbarschule könnten ihm auf dem Nachhauseweg auflauern und ihren Schulärger an ihm ablassen.
    Andererseits hätte Asis jetzt nicht gewusst, wie er alleine zum Haus der Halawis hätte zurückfinden oder auch nur jemanden nach dem Weg fragen sollen.
    Amir weist auf ein Auto, bewegt den Zeigefinger seiner rechten Hand vor dem Handteller seiner linken auf und ab und fordert Asis auf, diese Geste nachzuahmen.
    Asis schaut sich verwirrt um. Was werden die anderen Leute von ihrem seltsamen Unterricht halten? Sie sehen nur zwei stumme, wild gestikulierende Jungen, die offenbar geistesgestört sind. Er ignoriert Amirs Aufforderung und starrt weiter mürrisch auf den Gehweg vor ihnen.
    Amir bleibt stehen und hält Asis am Ärmel fest. Dann ergreift er, wie schon am Morgen in der Klasse, mit beiden Händen Asis’ Kopf und zwingt ihn, ihm ins Gesicht zu blicken.
    »Du bist taub, aber du bist nicht stumm!«, schreien seine Gebärden ihn an. »Benutze deine Hände!«
    Asis antwortet nicht. Er schaut verstohlen zu den Passanten. Die Schule war ein geschützter Raum. Aber hier, mitten auf der Straße, ist ihre Unterhaltung der reinste Zirkus.
    Natürlich bemerkt Amir seinen Blick. Nun lacht er frei heraus. »Du musst ja nicht gleich so geschwätzig werden wie ich und die anderen«, gebärdet er. »Aber du musst wissen, wir können über alles reden. Und du lernst nur, wenn du es versuchst!« Dann weist er auf die vereinzelten Passanten, die sich neugierig zu ihnen umdrehen. »Diejenigen, die uns für verrückt halten, sind die wahren Geisteskranken!«, schimpfen Amirs Hände. »Du selbst musst es doch am besten wissen! Hast doch lange genug zu ihnen gehört!«
    Nun muss auch Asis lächeln. Nichts ist diesem Jungen mit den großen Augen entgangen. Und auf einmal überschwemmt Asis ein grenzenloses Verlangen zu sprechen, nicht über das, für das es keine Sprachen, Worte oder Gesten gibt, sondern über Alltäglichkeiten, einfach um des Sprechens willen. Er weist auf ein Motorrad, einen Lastwagen, eine Ampel, ein Straßenschild, er legt seine Hand auf die Gehwegplatten, auf den Asphalt, an die Häuserwand, und Amir zeigt ihm die Gebärden für Teer, für Fliese, für Stein, Mörtel, Putz. Und die weißen Seiten in Asis’ Kopf werden mehr statt weniger. Er lächelt, weist auf sein Lächeln, und Amir führt seine rechte Hand zu seinem lächelnden Mund und zeigt Asis die Geste für Weinen und Trauer.
    Warum will Asis

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