Die Laute (German Edition)
Asis weiter ist als sein Klassenkameraden, und dass er viel liest. – Achselzuckend steckt Asis das Buch ein.
37
Der nächste Ausflug mit Akram führt die Klasse zum Alten Hafen unterhalb des Forts. Ghufrans Vater ist Fischer. Er besitzt ein eigenes Boot. Nun will er mit ihnen hinausfahren und ihnen die Kraterwände von der Seeseite zeigen. Zum Fischen herrscht nicht die richtige Tageszeit.
Es ist das erste Mal, dass Asis auf einem Schiff fährt. Der Kahn von Ghufrans Vater ist etwa zehn Meter lang, hat einen Mast für zwei Segel und einen Außenbordmotor. Die zwölf Jungen und ihr Lehrer sitzen auf den feuchten Netzen. Bänke gibt es nicht.
Sie verlassen den kleinen Hafen. Sobald sie das offene Meer erreichen, beginnt das Schiff zu schlingern, obwohl die See heute ruhig ist. Aber vom Ufer aus sieht man ja nur die Oberfläche.
Akram nimmt die Beunruhigung in den Gesichtern einiger Schüler wahr und beginnt sofort mit dem Unterricht. Er erzählt ihnen, unterstützt von Gebärden, die Geschichte von einem alten Mann, der aufs Meer hinausfährt, um zu fischen. Es ist eine einfache Geschichte, trotzdem fällt es den meisten Schülern schwer, sie Akram von den Lippen abzulesen. Ihr Lehrer erzählt sie auf Englisch.
Sonst schreibt er alle wichtigen Wörter an die Tafel und erklärt sie. Hier draußen auf der rumorenden See müssen sie den Sinn vor allem aus den begleitenden Gebärden erschließen.
Nur Asis hat keine Mühe zu folgen. Er kennt die Geschichte bereits. Sie war Teil des Englischunterrichts auf seiner Schule in Ibb. Damals fand er sie langweilig. Aber zu jener Zeit kannte er auch das Meer noch nicht.
Das Boot wankt nicht nur trunken hin und her, manchmal schlägt es auch hart mit dem Bug auf das Wasser, sodass den Insassen ein feiner Salzregen ins Gesicht stäubt. Und einigen ist übel. Sie knien an der Reling, bereit, sich jeden Augenblick zu übergeben. Feine blaue Lackschuppen kleben an den Innenflächen ihrer feuchten Hände. Ghufrans Vater lächelt.
Der Fischer redet wenig. Aber er kann reden, und er kann hören. Jeder in Ghufrans Familie kann hören. Ghufran selbst ist als kleines Kind an Scharlach erkrankt. Die Folge war eine akute Mittelohrentzündung, die auch die Gehörknöchelchen erfasste. Man hätte sofort das ganze Mittelohr aufmeißeln und den Abszess beseitigen müssen. Aber das haben Ghufrans Eltern erst erfahren, als die Krankheit überstanden war und Ghufran taub blieb.
Der Kampf mit dem großen Fisch dauert zwei Tage und zwei Nächte, erzählt Akram. Haie fallen den Fisch an, und der Fischer versucht vergeblich, seinen Fang zu retten. Zwei seiner Mitschüler erbrechen sich. Asis riecht die bittere Magen- und Gallensäure. Der Geruch erinnert ihn an die Autofahrt von Ibb nach Aden. Seither ist er nicht mehr in Ibb gewesen.
Damals haben die Serpentinen ihn krank gemacht. Nicht nur sein Gehör, auch sein Gleichgewichtssinn war zerstört. Aber das Schlingern dieses Bootes macht ihm nichts aus.
Der Seegang wird heftiger. Das im Hafen so stattlich wirkende Boot schrumpft in der Weite der See zur Teetasse. Dabei haben sie das Küstengewässer noch gar nicht verlassen. Mansur ist auf so einem Kahn von Somalia nach Aden geflohen, mit siebzig anderen Flüchtlingen an Bord. Fünf Tage und Nächte hat die Überfahrt gedauert.
Aber der Mensch darf nicht aufgeben, sagt Akram. Man kann eine Niederlage einstecken, aber man darf nicht aufgeben. Schon bei der ersten Lektüre hat Asis an dieser Botschaft gezweifelt. Der alte Mann verhält sich wie ein trotziges Kind. Nichts von Weisheit oder innerer Ruhe. Wie viele mögen auf dem Weg von Afrika nach Aden gestorben sein? Und was haben sie mit den Toten gemacht? Sie einfach über Bord geworfen? Nun lebt Mansur mit seiner Mutter in Basatin, einem Elendsviertel vor den Toren der Stadt, schon halb in der Wüste. Sind sie dafür unter Lebensgefahr aus ihrer Heimat geflohen?
Amir wollte ihm längst das Schwimmen beigebracht haben. Aber bisher ist es immer zu heiß gewesen, um den Strand zu besuchen. Man hätte den Ausflug in der Nacht machen müssen. Würde ein guter Schwimmer es überhaupt von hier bis zum Strand schaffen, wenn ihr Boot plötzlich kenterte? Die Küste scheint immer noch ganz nah zu sein, doch sind sie schon über eine Stunde mit dem Boot unterwegs. Kann Ghufrans Vater schwimmen? Er ist ein sehniger, von der Sonne fast schwarz gebrannter Mann. Ghufran hat das gleiche kantige Gesicht wie sein Vater.
Selbst wenn er schwimmen kann, würde
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