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Die Laute (German Edition)

Die Laute (German Edition)

Titel: Die Laute (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Roes
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er sie nicht alle retten können. Außerdem hat Asis gelesen, unter Seeleuten herrsche der Glaube, es bringe Unglück, wenn ein Seemann schwimmen könne. Selbst Ishmael wird ja nur gerettet, weil er sich an Queequegs Sarg klammern kann.
    Asis stellt sich vor, wie ganz überraschend ein Sturm heraufzieht. Das Boot tanzt willenlos auf den Wellenkämmen. Nun wird auch dem letzten Kameraden und dem Lehrer übel. Sie beugen sich über die Reling, Ghufrans Vater ruft ihnen warnende Worte zu, sich nicht alle an dieselbe Seite zu drängen. Doch keiner der Jungen hört seine Worte. Eine Welle wie ein Berg brandet gegen das Boot, es schlägt um, und alle stürzen ins schäumende Wasser, einige in die Netze verstrickt, auf denen sie eben noch hockten, andere, wie Asis, unter dem schweren Holzrumpf eingeschlossen, in dessen Dunkel ein schmaler Raum Luft geblieben ist. Asis schlägt mit dem Kopf immer wieder gegen die Holzwände, atmet mehr Wasser als Luft ein, aber lässt die Winde nicht los, über die sonst die Taue laufen. Wie lange hält er in diesem schwarzen Hohlraum durch? Die Vorstellung, hinabtauchen zu müssen, um diesem Sarg zu entkommen, erfüllt ihn mit Panik. Und was ist mit den anderen? Er schließt die Lider, hält die Luft an und lässt sich hinabgleiten in die Tiefe.
    Er öffnet die Augen. Sie brennen im Salzwasser. Aber er sieht das Licht und versucht, neben dem Bootsrumpf wieder aufzutauchen. Er paddelt wie ein ertrinkender Hund, doch bewegt sich keinen Handbreit auf die rettende Oberfläche zu. Irgendetwas hält ihn fest. Er schaut hinunter in die unheimliche Tiefe und sieht Amir, der ihn mit weit aufgerissenen Augen anstarrt und sich an sein Hosenbein klammert. Kann er denn nicht schwimmen?
    Er blutet aus einer Wunde am Kopf. Und aus seiner Nase steigen kleine rosa Bläschen auf. Sein Blut wird die Haie anlocken, denkt Asis. Er schluckt mehr und mehr Wasser. Ich muss ans Licht, muss an die Luft, schreit er stumm. Er gibt Amir einen Tritt. Doch Amir lässt ihn nicht los. Asis löst den Gürtel seiner Hose und kann sich mit einer letzten Kraftanstrengung von ihr und dem mörderischen Ballast befreien.
    Endlich beendet Akram seine Geschichte. Es gibt kein Happy End, soviel begreifen seine Schüler. Er macht Ghufrans Vater ein Zeichen, er möge nun umkehren und sie zum Hafen zurückbringen. Er blickt seine Schüler aufmunternd an und scheint mit den Ergebnissen dieser Exkursion außerordentlich zufrieden zu sein.
    Auf der Mole gibt Asis seinem Lehrer das geliehene Buch zurück. Es ist trotz des angeblich wasserdichten Rucksacks ein wenig nass geworden.
    »Wie haben dir Naga Junas Stücke gefallen?«, fragt er.
    Sein Englisch sei noch nicht gut genug, antwortet Asis ausweichend. Doch der Monolog des Gefangenen auf der Sträflingsinsel habe ihn angesprochen.
    »Was magst du an diesem Monolog?«
    »Ich weiß nicht. Er hat mich berührt. Nagar Juna beschreibt das Gefühl der Verlassenheit so wirklichkeitsgetreu, als habe er selbst mal im Gefängnis gesessen.«
    «Er hat viele Jahre im Gefängnis gesessen!«
    Asis blickt seinen Lehrer erstaunt an. »Was hat er angestellt?«
    Akram zögert mit der Antwort. Dann gebärdet er das Zeichen für
harram
, unsagbar, verboten.

38
    Nach der Schule fragt Amir ihn überraschend, ob er nicht noch zum Essen mit ihm nach Hause kommen wolle. Asis schüttelt den Kopf. Er erinnert sich nur ungern an die letzte Begegnung mit Amirs Vater auf dem Polizeirevier in Khor Maksar. Doch Amir besteht auf seine Einladung. Asis will seinen Freund nicht kränken, kann ihm aber auch den wahren Grund nicht nennen.
    »Deine Mutter ist sicher nicht auf einen Gast vorbereitet«, gebärdet er schließlich.
    Amir lächelt: »Wir sind eine große Familie. Da fällt ein weiterer Esser gar nicht auf.« – Er ergreift Asis’ Arm, hakt sich unter und schleift ihn einfach mit, Richtung Osten, in die ärmeren Wohnviertel Craters.
    Hier stehen die Wohnblocks, die noch von der früheren sozialistischen Regierung erbaut wurden, einfache vierstöckige Plattenbauten aus Betonteilen, die in keiner Weise zum Klima Adens passen und außer billigem Wohnraum auch keinerlei Komfort zu bieten haben. Grau und schäbig stehen sie an den baumlosen Straßen aufgereiht, bis dicht an den steilen Kraterrand.
    Asis ist selten in diesem Viertel. Es gibt hier keine Cafés und auch sonst nichts, was einen Besuch lohnte. An einer Straßenecke steht auf dem schmalen Gehweg ein Billardtisch, sodass sie auf die Fahrbahn ausweichen

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