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Die Lava

Die Lava

Titel: Die Lava Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrich Magin
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deutete in die Zuschauermenge, die auf der Wiese stand.
    »Ich habe diesen Mann gesehen, als ich den Taucher aus dem Laacher See zog, dann als er uns – Joe und mich – am See verfolgte – er hat etwas damit zu tun!« Die Aufregung verlieh ihr Sicherheit. Normalerweise denkt man zweimal nach, bevor man jemanden beschuldigt, er habe auf einen Menschen geschossen.
    Sie beugte sich über Joe, der blutend auf der Betonplattform neben dem Kran lag.
    »Wie geht es dir?«, flüsterte sie.
    »Es schmerzt«, antwortete Joe, »aber ich glaube nicht, dass es schlimm ist. Ich …« Er schloss die Augen.
    Franziska schob Joes zerfetztes T-Shirt nach oben. Aus seiner Seite quoll Blut, aber der Schuss konnte ihn nur gestreift haben – es war kein Einschussloch, nur ein roter Schnitt, der sich unterhalb des Nabels quer über die Seite zog.
    MacGinnis brüllte in sein Handy. Er verständigte die Polizei. Die anderen Mitglieder des britischen Teams hatten sich sofort geduckt und kauerten noch immer am Boden.
    Franziska drehte den Kopf und sah empor: Da baumelte das zerfranste Ende des Zugseils, die einzelnen Stränge spreizten sich wie Spinnenbeine ab. Der Kranarm ragte leicht schräg, in sich verdreht, in Richtung See, an seiner Basis eingeknickt und zur Seite gefaltet wie ein Kartonrohr. Er schaukelte hin und her und erzeugte bei jeder Bewegung ein grässliches Geräusch, ein eigentümliches Brüllen, als Metallteile an Metallteilen rieben.
    Aus den Augenwinkeln registrierte Franziska eine Bewegung in der Menge der Zuschauer – der Mann, den sie erkannt hatte, war aufgestanden und eilte nun durch die auf der Wiese liegenden Menschen; MacGinnis schrie ihm zu, er solle stehen bleiben. Der Alte deutete mit dem Arm auf den Mann, der nun immer schneller ging und, als er das Feld mit den Zuschauern verlassen hatte, zu rennen anfing. MacGinnis, das Handy am Ohr, begann ihm nachzulaufen, und vom Parkplatz her kamen drei Polizeibeamte mit gezückter Waffe, die ebenfalls hinterhersprinteten.
    In das metallische Gebrüll mischte sich das Martinshorn eines Krankenwagens. Franziska spürte, wie sie beiseitegeschoben wurden. Dann legten zwei Sanitäter Joe auf eine Trage. Einer sprach beruhigend auf ihn ein, der andere fühlte seinen Puls und öffnete einen Metallkoffer mit Notfall-Medizin. Die Sanitäter sprachen untereinander und nickten sich zu, dann drehte einer der beiden sich zu Franziska um und sprach zu ihr. Sie hörte die Worte wie durch eine dicke Schicht aus Watte, alles lief in Zeitlupe ab.
    »Es geht ihm gut«, sagte der Mann, »die Wunde ist nicht allzu tief.«
    Franziska nickte müde. »Gott sei Dank«, seufzte sie.
    Der Sanitäter drückte ihre Hand. »Wollen Sie mitfahren?«
    Sie reagierte nicht.
    »Heute Abend ist er wieder bei Ihnen«, fügte der Mann hinzu.
    »Ich will hier bleiben«, meinte Franziska noch unter Schock, »ich muss doch den Attentäter identifizieren.«
    »Wir fahren jetzt«, sagte der Sanitäter, aber Franziska schaute schon auf den Uferweg, wo der Schütze immer noch floh, MacGinnis und die Polizisten ihm dicht auf den Fersen.
    Langsam kam Bewegung in die Menge, laute, sorgenvolle Rufe: »Bist du verletzt?« »Wer hat da geschossen?« »Was ist passiert?«
    Dann rannte Franziska ebenfalls los. Das war dumm, sie konnte ja doch nichts tun, aber sie lief, lief immer weiter, kam den vor ihr hetzenden Leuten immer näher. Ihre Seite stach, Tränen liefen ihr in die Augen.
    Der Schütze bog vom asphaltierten Uferweg ab und lief den Hang hinauf.
    Franziska rannte weiter, nun querfeldein, um dem Mann den Weg abzuschneiden. Sie sprang über einen Entwässerungsgraben, dann über einen niedrigen Stacheldrahtzaun. Es zerriss ihr die Hose und ritzte sie in die Haut.
    Ein niedrig hängender Zweig schlug ihr in die Seite wie ein Peitschenhieb, als sie mitten durchs Unterholz in den Wald hineinhastete. Über ihr kroch der Mann den Hang empor. Das Laub und die Nadeln am Boden waren noch feucht, der Mann glitt immer wieder aus. Hier, an der Stelle, an der sich Franziska befand, stand das Unterholz so dicht, dass der Regen den Boden nicht erreicht hatte. Sie kam besser voran als der Schütze, unter dessen Füßen das Laub fast völlig weggerutscht war. Er stand auf der feuchten, schwarzen Erde, die seinen Schritten keinen Halt bot.
    Keuchend beschleunigte Franziska. Mit letzter Kraft stieg sie bergan, die Landschaft verwischte vor ihren Augen. Inmitteneines impressionistischen Bildes aus verschwommenen Baumstämmen und

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