Die Lava
Mitte, führte sie dann waagrecht ein kleines Stück weiter und beendete den Strich nach rechts unten spiegelverkehrt zur Ausgangslinie. Es ergab den typischen Umriss eines spitzen, am Gipfel abgeflachten Berges, wie man es vom Fujiyama oder Vesuv kennt. Dann zeichnete sie am Fuß des Berges eine Art Schüssel ein, den Bereich vom Gipfel bis zur Schüssel schraffierte sie.
Vielleicht nicht ganz so steil, korrigierte sich Franziska in Gedanken, aber ihre vesuvartige Grafik war ja das, was mansich unter einem Vulkan vorstellte. Sie rechtfertigte ihre Übertreibung in Gedanken, geriet aber nicht ins Stocken.
»So!«, sagte sie und deutete auf die schraffierte Fläche. »So sah der Laacher Vulkan vor seiner Explosion aus, und das« – sie wies auf den Kessel – »ist heute noch davon übrig.«
Der Moderator warf einen flüchtigen Blick auf die Skizze.
Weil der Boden nun doch ein paar Mal ziemlich heftig gewackelt hatte, wollte der lokale Fernsehsender, der sonst bezahlte Stadtporträts ausstrahlte, einen Experten befragen.
Franziska hatte sich auf diese Gelegenheit gefreut – zum ersten Mal im Fernsehen. Sie hatte einige Stunden mit Herzklopfen verbracht, gehofft, dass sie alles gut überstehen würde. Dann hatte der Tag so viel Neues für sie bereitgehalten – die Riesenblase, der Taucher im See, die bange Stunde im Krankenhaus –, dass sie ihren Auftritt fast versäumt hätte. Sie war im letzten Augenblick im Koblenzer Studio angekommen.
Eine blasse Assistentin bugsierte sie in die Maske, wo eine ältere Frau ihr mit einem Wattebausch schwarzes Pulver ins Gesicht schmierte. »Wegen der Lichtreflexe«, erklärte sie. »An Ihren Haaren müssen wir nichts machen, die sehen toll aus!«
Der Moderator der Landesnachrichten, den sie sonst sehr schätzte, ignorierte seine Gäste, bis er sie vor laufender Kamera ganz herzlich begrüßte.
Er fragte danach, was die jüngste Serie von Erdstößen bedeuten könnte, und aus Franziska, unerfahren und aufgeregt, sprudelte es hervor: über den Laacher See, der eben kein Maar, sondern eine Caldera war, darüber, dass er jederzeit erneut ausbrechen könnte.
Sie zog gleich zu Beginn ihr Ass aus dem Ärmel: »Man hat vor kurzem riesige Gasblasen an der Seeoberfläche beobachtet« – sie ließ aus, dass das die Beobachtungen eines fünfjährigen Kindes waren, ihrer Tochter zudem – »und daskönnte bedeuten, dass die Magmakammer tatsächlich steigt. Noch befindet sie sich in 50 Kilometern Erdtiefe. Aber bereits einen Kilometer unter unseren Füßen beträgt die Temperatur 60 bis 70° C – wir sitzen buchstäblich auf einem Pulverfass. Das alles beweist uns, dass die Vulkanität hier längst nicht erloschen ist – im Gegenteil. Und es ist gut möglich, dass es nur Wochen dauert, bis die Magmakammer so voll oder der Erdoberfläche so nahe gekommen ist, dass es erneut zu Grundwasserexplosionen kommt, die ganze Dörfer vernichten – oder bis der Laacher See wieder Lava spuckt.«
Eingehend betrachtete der Moderator nun Franziskas Zeichnung. »Was genau geschah damals? Wie kam es zu dem Ausbruch?«
»Wir Vulkanologen nennen das eine Caldera – die Ruine eines Berges. Diese Caldera hat sich im Lauf der Zeit mit Wasser gefüllt – das ist der Laacher See von heute. Eine Caldera entsteht, wenn die Magmakammer unter einem Vulkanberg explodiert und sich völlig entleert – und der Berg in sich zusammenstürzt. Der Laacher See ist eine solche Caldera. Die Ruine der einstigen Bergwand umgibt den See noch bis zu 125 Meter Höhe. Der Trichter selbst, der sich jetzt mit Wasser gefüllt hat, ist rund 50 Meter tief.«
Sie schwieg kurz, sah den Moderator dann direkt an. »Können Sie sich vorstellen, welch eine Explosion sich damals ereignet hat, die einen ganzen Berg wegsprengte?«
»… einen ganzen Berg?«
»Der Ausbruch des Laacher Vulkans war eines der verheerendsten Ereignisse in der Geschichte der Menschheit. Vergleiche sind immer schwierig, aber um Ihnen ein Verständnis für das Ausmaß der Katastrophe zu geben, führe ich mal Vergleiche an, die unterschiedliche Vulkanologen unternommen haben. Da heißt es, der Laacher Vulkan habe mehr Bims- und Aschemengen als beispielsweise der Ausbruchdes Pinatubo 1991 erzeugt. Man geht davon aus, dass er tatsächlich die fünffache Energie des Pinatuboausbruchs hatte, etwa 250 Mal so stark wie der Zusammenbruch des Mount St. Helens im Jahre 1980 oder 500 Mal so stark war wie die Hiroshima-Bombe.«
Die Aufregung beflügelte ihre Worte,
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