Die Lazarus-Formel
ihrerseits vor Sprachlosigkeit weit offen stehendem Mund, dann musste sie sich ganz schnell wieder setzen, ehe ihr die zitternden Beine den Dienst versagten.
»Warum haben Sie das getan?« Die Augen des jungen Mannes, der vor ihr stand, waren von tiefer Traurigkeit erfüllt.
»O mein Gott. Sie haben es geschafft«, flüsterte Eve tonlos. »Sie haben es tatsächlich geschafft, Melchior .«
10
Die Jagd hatte früher begonnen als erwartet.
Der Motorradfahrer verfluchte sich dafür, dass er außer den beiden Schwertern auf seinem Rücken nicht auch ein Gewehr mitgebracht hatte. Er stand seitlich am Hang des Klosters im dichten Unterholz zwischen den alten Linden und beobachtete abwechselnd die beiden Kuttenträger. Der eine kniete oben am Waldrand und zielte mit einer Armbrust auf den Turm, der zweite knackte gerade die Tür des Klostertors und schlich mit einem Kanister in den Hof.
Schon wenige Augenblicke, nachdem er vorhin sein Motorrad abgestellt hatte, hatte er gewusst, dass bereits jemand da war und auf Eve Sinclair wartete. Er kannte die Zeichen der Natur. Der Eichelhäher hatte nicht wegen ihm gekräht, sondern wegen irgendjemandem oberhalb des Klosterhanges. Und trotz des Warnschreis des Vogels hatte er kaum ein flüchtendes Tier gehört, was bedeutete, dass sie sich schon früher in Sicherheit gebracht hatten. Vor wem ?
Also hatte er sich, statt Eve Sinclair weiterzufolgen, daran gemacht, das Gelände zu sichern und dann zuerst den Mann mit der Armbrust entdeckt und anschließend, als er den Hang schon halb in der Deckung der ihn umgebenden Bäume erklommen hatte, den anderen mit dem Kanister.
Wie konnten sie vor uns hier sein? Er erinnerte sich daran, wie Eve Sinclairs rothaarige Assistentin vor deren Haus mit dem Handy telefoniert hatte, während er die Verfolgung des Audi aufgenommen hatte.
Er musste sich beeilen, und er musste sich entscheiden. Natürlich musste er beide ausschalten, aber welchen zuerst? Den Armbrustschützen . Der war trotz der größeren Distanz die direktere Bedrohung. Er zog sich in den Schatten zurück und eilte den Hang hinauf, lautlos, wie er es in seiner Zeit bei den Navajo gelernt hatte.
Dass die Männer in den Kutten hier waren, um Eve Sinclair zu töten, bedeutete, dass die Wissenschaftlerin ihnen trotz der kurzen Zeit bereits zu nahe, dem von ihnen so gut gehüteten Geheimnis zu dicht auf die Spur gekommen war.
Für ihn selbst ein gutes Zeichen. Es gab neue Hoffnung.
Er musste nur noch dafür sorgen, dass sie überlebte.
11
»Professor Melchior Feldmann.« Eve war fassungslos. Vor ihr stand der lebende Beweis für die Unsterblichkeit. Auch wenn er es aufgebracht mit den Händen fuchtelnd abstritt.
»Was reden Sie da? Melchior war mein Vater. Mein Name ist Arthur.«
Sie war zurück auf den Stuhl gefallen und holte mit zittrigen Fingern die ausgedruckten Zeitungsartikel aus der Handtasche, die sie neben dem Tisch abgestellt hatte. Der älteste lag obenauf. Das mehr als sechzig Jahre alte Bild aus der Hamburger Morgenpost zeigte den Mann, der nun in der obersten Kammer des Klosterturms vor ihr stand: Professor Melchior Feldmann. Nur dass der Mann vor ihr sogar noch ein klein wenig jünger und um einiges gesünder und vitaler aussah als auf dem Foto.
Sie hielt ihm den Ausdruck hin. »Es hat nie einen Arthur gegeben, habe ich recht?«
Er schaute gar nicht hin. »Sie reden sich da etwas ein. Bitte gehen Sie jetzt.«
»Selbst Arthur müsste jetzt über sechzig sein. Und Sie sind höchstens Anfang dreißig.«
Das ging gerade alles viel zu schnell. Eve war völlig verwirrt.
Da war so vieles, das bei seinem Anblick auf sie einstürmte: der Triumph der Wissenschaftlerin, weil sich ihre Theorie bewahrheitet hatte, wenn auch sehr viel schneller, als sie es für möglich gehalten hätte; gleichzeitig die Enttäuschung der Kämpferin, weil jemand vor ihr das Geheimnis entdeckt hatte, lange vor ihr, sogar lange vor ihrer Geburt; und trotzdem war da natürlich Begeisterung darüber, dass ewiges Leben überhaupt möglich und somit auch für sie selbst greifbar war.
Welten stürzten ein, und neue zeigten sich. Ihr sonst so konzentrierter Verstand galoppierte in alle Richtungen gleichzeitig. Da war aber auch Unverständnis – und natürlich Wut. Wut auf einen Mann, der solch ein Geheimnis für sich behielt. Plötzlich sogar Zorn, als ihr durch den Kopf schoss, dass zum Beispiel ihre Eltern noch hätten leben können und die Eltern von Millionen anderen, Milliarden sogar,
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