Die Lazarus-Formel
junge Frau mit rotem, zu einem Pferdeschwanz zusammengefassten Haar und Nickelbrille. Sie war vier oder fünf Jahre jünger als Eve, also Anfang zwanzig, und hatte den Blick so gebannt auf das elektronische Lesetableau in ihren Händen gerichtet, als befürchtete sie, die Zahlen darauf würden verschwinden, wenn sie auch nur einen Sekundenbruchteil lang wegsah.
»Wir haben die Testresultate!«, rief sie ohne aufzublicken und mit unverhohlener Freude, ja, Triumph in der Stimme.
Eve schreckte hoch und stieß dabei mit der Hand einen Stifthalter um, der scheppernd zu Boden fiel. Erst da begriff die Rothaarige, dass Eve geschlafen hatte – und es war ihr, als sie endlich doch aufsah, sichtlich unangenehm, sie geweckt zu haben. Ihre Wangen glichen sich der Farbe ihres Haares an, und sie stammelte: »Entschuldigen Sie, Doktor Sinclair. Ich habe nicht gesehen, dass Sie schlafen. Tut mir leid, ich wollte Sie nicht stören. Aber … aber … aber …«, stotterte sie. »Wir haben die Testresultate, und die sollten Sie sich unbedingt sofort ansehen, und wenn Sie sie gesehen haben, werden Sie meine Aufregung verstehen und mir meine Unhöflichkeit hoffentlich verzeihen.«
»Hör auf zu schnattern, Anne«, sagte Eve mit schlafkratziger Stimme und rieb sich die Augen. »Wo sind die Ergebnisse?«
»Ich habe sie auf drei und fünf geleitet«, antwortete Anne und deutete auf die entsprechenden Samsung 21 ˝ - LCD Flatscreen-Bildschirme über Eves Schreibtisch. Eve schaltete sie ein, nahm einen Schluck aus der Tasse, die vor ihr gestanden hatte, und bereute es augenblicklich. Der Milchkaffee darin war kalt und abgestanden. Sie überlegte kurz, wohin sie ihn wieder ausspucken sollte. Zurück in die Tasse wäre ihrer Ansicht nach widerwärtig gewesen. Etwas anderes fand sie aber nicht. Also schluckte sie den kalten, bitteren Kaffee kurzerhand hinunter und verzog das Gesicht zu einer Grimasse. Die aber hellte sich sogleich auf, als die beiden Bildschirme die Tabellen und Diagramme mit den Testresultaten zeigten. Mit einem Schlag war Eve hellwach.
»Wir haben es geschafft!«, rief sie und sprang von ihrem Stuhl auf. »Wir haben es endlich geschafft!« Sie wirbelte herum, warf die Arme um Anne, zog sie an sich und küsste sie auf beide Wangen. »Wir haben es geschafft, Anne«, sagte sie noch ein drittes Mal, und in ihren grünen Augen standen Freudentränen. »Ich muss sofort los und es Professor Berg erzählen!«
»Sie glauben doch wohl nicht, dass Sie die Einzige sind, die sich diese ganz besondere Nacht um die Ohren schlägt.« Die freundliche Männerstimme kam von der Tür, in der auf einmal Professor Christian Berg stand. Er lächelte und hielt in seinen Händen eine Flasche Champagner und drei Gläser. »Ich bin so stolz auf Sie, Eve!«
Er stellte die drei Gläser auf einem Rolltisch ab und öffnete die Flasche. Der Korken knallte und flog in Richtung Glasdach. Eve folgte seinem Flug mit den Augen und sah zu den Sternen empor. Ihr Blick blieb am Sternbild des Orion mit seinem charakteristischen Gürtel hängen, während Professor Berg die Gläser füllte und mit seinem Lob fortfuhr. »Sie hatten recht mit Ihrer Annahme: Das aus der Eibe gewonnene Taxan Paclitaxel ist ein Mitoseblocker und unterdrückt die Teilung von Krebszellen.«
Anne verteilte die Gläser und fügte hinzu: »Von heute an können wir das Wachstum von Krebs stoppen und vielleicht sogar die Entwicklung von Metastasen.« Sie hob ihr Glas. »Auf das Paclitaxel!«
»Auf die Eibe!« Professor Berg prostete ihr zu. »Nahezu unsterblich und hochgiftig zugleich.«
»Und ausgerechnet ihr Gift ist es, das den Krebs heilt.«
Eve schaute noch immer zu den Sternen empor, und ihre Augen leuchten, als ihr ein neuer Gedanke kam, entfacht durch das, was der Professor und ihre Assistentin gerade gesagt hatten. Dann wanderte ihr Blick zu den Eiben. Die beiden ihr zum Toast hingehaltenen Gläser ignorierend flüsterte sie: »Von allen Pflanzen der Erde liefert ausgerechnet die einen Zellteilungsblocker, deren eigene Zellen nie aufhören sich zu teilen.«
»Was die Eibe zur langlebigsten Pflanze der Welt macht«, fügte Anne hinzu.
»Woran denken Sie gerade, Doktor Sinclair?«, fragte Professor Berg interessiert und zugleich auch ein wenig argwöhnisch. »Und sagen Sie nicht ›an nichts‹. Ich kenne diesen Blick, und zwar nur zu gut. Also, was brütet Ihr Superhirn schon wieder aus?«
Eve stellte ihr Glas ab. »Ich sortiere gerade die Ursache-Wirkungs-Kette neu,
Weitere Kostenlose Bücher