Die Lazarus-Formel
aus dem Paradies verjagt. Zucker oder Kandis?«
Sie begriff erst nach einer Sekunde, dass die Frage an sie gestellt war. »Zucker wäre fein«, sagte sie. »Zwei Löffel, bitte. Keine Milch.«
Während er Zucker in ihre Tasse gab, sprach Arthur weiter. »Besonders interessant finde ich, dass sich Luzifer und der Engel nicht nur täuschend ähnlich sehen – wie auf vielen von Michelangelos Gemälden übrigens –, sondern zudem Rücken an Rücken und in gleicher Höhe so angeordnet sind, als wären sie miteinander verwachsen und als würden sie beide aus dem Schlangenkörper darunter hervorwachsen.«
Eve schaute genauer hin – und war verblüfft. »Tatsächlich. Eine Schlange mit zwei Oberkörpern.«
Aber Arthur schüttelte den Zeigefinger. »Eine geschickte optische Täuschung des Meisters. Denn wenn man noch genauer hinsieht, stellt man fest, dass es zwei Schlangenkörper sind, die sich um den Baum winden; der eine mündet in Luzifer, der andere in dem Seraph. Damit will Michelangelo nicht nur auf die gemeinsame Wurzel von Teufel und Engel hinweisen, sondern auch darauf, wie eng verschlungen und nah beieinander liegend Gut und Böse sind.«
Das Bild war wirklich wundervoll. Sie hatte viel übrig für Kunst, aber Bibelmärchen und Philosophien über Gut und Böse langweilten sie als Wissenschaftlerin eher. Sie wollte, um ein Referat darüber zu vermeiden und um zum eigentlichen Grund ihres Besuchs zu kommen, gerade etwas sagen wie Oh, wirklich? Das ist sehr interessant. Aber weshalb ich eigentlich gekommen bin … , als sie auf der anderen Seite der Tür eine Gruppe kleinerer Bilder entdeckte.
Es waren Kupferstiche, Zeichnungen und Malereien, die allesamt ähnliche Motive wie der Michelangelo zeigten. Dabei fiel ihr etwas auf, das durchaus mit ihrem Besuch zu tun haben konnte, und sie beschloss, Arthur Feldmann doch noch ein wenig länger dozieren zu lassen.
»Und die hier?«, fragte sie deshalb und deutete auf die Miniaturen.
»Das fragen Sie nur, um einem alten Mann des Gefühl zu geben, er hätte etwas Interessantes zu erzählen«, sagte Arthur in freundlicher Schüchternheit.
Sie lächelte ihn an. »Ich treffe viel zu selten Kunstkenner, um diese Gelegenheit nicht beim Schopfe zu packen.« Eve log nicht gern. Aber je genauer sie die Bilder betrachtete, umso besser schien es ihr, ihn einfach weitererzählen zu lassen, denn wenn sie sich nicht täuschte, würde das ganz automatisch zum Grund ihres Besuchs führen.
»Sie schmeicheln mir«, sagte er. »Ich mag das. Es ist schon lange her, dass mir eine so ausgesprochen schöne Frau geschmeichelt hat.« Er nahm einen Schluck Tee und merkte, dass er seinen noch nicht gesüßt hatte. Er holte das nach, nahm einen erneuten Schluck, stellte die Tasse dann ab und ging hinüber zu den Bildern.
»Das hier ist ein Kupferstich von Albrecht Dürer. Das Original befindet sich im Städel-Museum, Frankfurt; es besitzt die meisten seiner Grafiken. Es gibt ein berühmteres Bild des Sündenfalls von ihm: Öl auf Kiefer, auf dem er versucht hat, seine Eva aussehen zu lassen wie Botticellis ›Venus‹, aber ich persönlich finde den Stich sehr viel raffinierter, detailreicher und auch anspruchsvoller.«
»Und das daneben?«, fragte Eve, als er Luft holte. Sie wollte nicht, dass er bei jedem einzelnen Bild so weit ausholte. Denn das, was sie interessierte, waren nicht die einzelnen Bilder, sondern das, was sie gemein hatten.
»Hier haben wir eine Kopie eines Triptychons von Hans von Marée aus dem 19. Jahrhundert: im linken Teil der sich nach der Frucht bückende Mann, im rechten dann altersgebeugt und von spielenden Kindern umgeben; im Hauptteil in der Mitte nicht nur eine Frau mit der Frucht, sondern gleich drei.«
»Drei Evas?«
Arthur gluckste vergnügt. »Das könnte man auf den ersten Blick meinen. Aber in Wahrheit ist es, obwohl es so aussieht, gar kein Bild vom Sündenfall, sondern ein Bild der Hesperiden aus der griechischen Mythologie.«
»Hesperiden?«
»Die Musen, die zusammen mit dem Drachen Ladon die goldenen Äpfel der Gaia bewachen. Genau wie auf dem nächsten hier von Sir Edward Burne-Jones, ebenfalls 19. Jahrhundert. Die Schlange, die sich um den Baum windet, stellt nicht Luzifer dar, sondern Ladon. Wie auch hier auf dem letzten Bild, einer Fotografie eines römischen Mosaiks aus dem spanischen Llíria, drittes Jahrhundert. Es ist Teil der ›Zwölf Aufgaben des Herkules‹ und zeigt den Halbgott im Kampf mit dem Drachen.«
Er nahm es von der Wand
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