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Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
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regelrechter Schlaflosigkeit, weil er dem langen Nachmittagsschlaf den Vorzug gab und erst des Morgens einschlummerte, wenn die Morgenröte bereits die Furcht vor der Finsternis verscheuchte.
    Aber es traten auch Pausen ein. Lazare wurde manchmal zwei oder drei Abende lang nicht vom Tode besucht. Eines Tages fand Pauline einen Kalender bei ihm voller Rotstiftstriche. Sie fragte ihn erstaunt.
    »Was zeichnest du dir denn so auf? ... Das sind ja angestrichene Daten!«
    Er stammelte:
    »Ich vermerke mir nichts ... Ich weiß nicht ...«
    Sie fuhr heiter fort:
    »Ich glaubte, daß nur die jungen Mädchen den Kalendern Dinge anvertrauen, die man niemandem sagt ... Wenn du an allen diesen Tagen an uns denkst, bist du ja außerordentlich liebenswürdig ... Du hast Geheimnisse.«
    Als er jedoch immer verwirrter wurde, hatte sie die Barmherzigkeit zu schweigen. Über die erbleichte Stirn des jungen Mannes sah sie einen ihr bekannten Schatten huschen, das verborgene Leiden, von dem sie ihn nicht zu heilen vermochte.
    Seit einiger Zeit setzte er sie durch eine neue Sucht in Staunen. In der Gewißheit seines nahen Endes verließ er kein Zimmer, schloß er kein Buch, bediente er sich keines Gegenstandes, ohne zu glauben, daß dies seine letzte Handlung sei, daß er weder den Gegenstand noch das Buch und das Zimmer wiedersehen werde, und er hatte daher die Gewohnheit eines beständigen Abschiednehmens von. den Dingen angenommen, ein krankhaftes Bedürfnis, die Gegenstände noch einmal in die Hand zu nehmen, sie noch einmal wiederzusehen. Diese Angewohnheit mischte sich mit gewissen entsprechenden Gewohnheiten: drei Schritte nach links und drei nach rechts, die Möbel zu beiden Seiten eines Kamins oder einer Tür, ein jedes gleichmäßig oft berührt; ohne seiner jüngsten abergläubischen Vorstellung zu gedenken, daß eine gewisse Zahl von Berührungen, auf eine besondere Art verteilt, verhindere, daß der Abschied endgültig sei. Trotz seines lebhaften Geistes, seiner Verneinung alles Übernatürlichen, übte er diesen Blödsinn mit tierischer Fügsamkeit aus und verheimlichte sie wie eine schimpfliche Krankheit. Das war die Rache der nervösen Zerrüttung bei dem Pessimisten und dem Positivisten, der einzig an die Tatsache, an die Erfahrung zu glauben erklärte. Er wurde infolgedessen unerträglich.
    »Was hast du nur herumzutrampeln?« rief Pauline. »Du gehst jetzt schon zum dritten Mal an diesen Schrank, um seinen Schlüssel zu berühren ... Er fliegt nicht davon.«
    Abends war er nicht aus dem Eßzimmer herauszubringen, er stellte die Stühle nach einer bestimmten Ordnung, ließ die Tür eine gewisse Zahl zuschlagen, kehrte dann zurück, um erst die rechte, dann die linke Hand auf das Meisterstück seines Großvaters zu legen. Sie erwartete ihn an der Treppe und lachte schließlich:
    »Was für ein Narr wirst du mit achtzig Jahren sein! ... Ich frage dich nur, ist es vernünftig, die Sachen so zu quälen? ...«
    Mit der Länge der Zeit hörte sie auf, ihn zu necken, sein Unbehagen beunruhigte sie. Eines Morgens überraschte sie ihn dabei, wie er siebenmal das Holz des Bettes küßte, in dem seine Mutter gestorben war; sie erschrak gewaltig, denn sie erriet die Qualen, die ihm das Dasein vergifteten. Erbleichte er, wenn er in einer Zeitung ein zukünftiges Datum aus dem zwanzigsten Jahrhundert fand, so sah sie ihn mit ihrer mitleidigen Miene an, was ihn den Kopf umwenden ließ. Er fühlte sich verstanden, er eilte in sein Zimmer, um sich da zu verbergen mit der wirren Schamhaftigkeit einer Frau, die man in ihrer Nacktheit überrascht hatte. Wie oft schon hatte er sich der Feigheit angeklagt. Wie oft schon hatte er sich zugeschworen, gegen sein Leiden zu kämpfen! Er wollte Vernunft annehmen: dem Tode ins Antlitz schauen; um ihm zu trotzen, streckte er sich sofort auf seinem Bette aus, anstatt im Lehnstuhle zu wachen. Der Tod konnte kommen, er wartete auf ihn wie auf eine Erlösung. Aber ebenso schnell entführten die Schläge seines Herzens seine Schwüre, ein kalter Hauch ließ sein Fleisch zu Eis erstarren, er streckte mit dem Schrei: »Mein Gott! Mein Gott!« die Hände aus. Das waren schauderhafte. Rückfälle, die ihn mit Scham und Verzweiflung erfüllten. Das zärtliche Mitleid seiner Base drückte ihn jetzt vollends zu Boden. Die Tage wurden so schwer, daß er sie ohne die Hoffnung begann, ihr Ende zu erleben. Bei dieser Zerbröckelung seines Seins hatte er zuerst die Heiterkeit verloren, und jetzt verließ ihn auch

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