Die Lebensfreude
Tieren an. Warum sollten sie fortgehen? Sie waren doch hier geboren? Das dauere schon seit hundert und abermals hundert Jahren; sie hätten anderswo nichts zu suchen. Es war eben so, wie Prouane sagte, wenn er getrunken hatte; »von irgend etwas müsse der Mensch schließlich gefressen werden«.
Pauline lächelte, stimmte mit dem Kopfe bei, denn nach ihrer Meinung hing das Glück weder von den Leuten noch von den Dingen ab, sondern von der vernünftigen Art, wie man sich den Leuten und den Dingen anpasse. Sie verdoppelte ihre liebevolle Hilfe, verteilte die reichlichsten Gaben. Endlich hatte sie auch die Freude gehabt, Lazare für ihre Nächstenliebe zu interessieren; sie hoffte, ihn dadurch zu zerstreuen, ihn durch das Mitleid zu einem Vergessen seiner selbst zu führen. Er blieb jeden Sonnabend bei ihr, sie empfingen gemeinsam von vier bis sechs Uhr die kleinen Freunde des Dorfes, die Reihe zerlumpter Kinder, welche die Eltern zum Fräulein betteln schickten. Es war ein Haufe rotznasiger Bengel und kleiner Mädchen voller Ungeziefer.
Eines Sonnabends regnete es, Pauline konnte ihre Verteilung nicht auf der Terrasse vornehmen, wie es sonst ihre Gewohnheit war. Lazare mußte eine Bank holen, die in der Küche aufgestellt wurde.
»Herr Lazare,« schrie Veronika, »will das Fräulein vielleicht dieses Lausezeug hier hereinbringen?... Das ist ja ein netter Gedanke; meinetwegen, wenn Sie durchaus Tiere in Ihrer Suppe finden wollen...«
Das junge Mädchen kam mit ihrer Tasche voll Silbermünzen und dem Medizinkasten. Sie antwortete lachend:
»Was da! Du kehrst nachher ein bißchen auf... Außerdem regnet es so stark, daß der Guß die armen Kleinen gehörig abgewaschen hat.«
In der Tat hatten die ersten, die kamen, ein rosiges, vom Platzregen gewaschenes Gesicht. Aber sie waren so durchnäßt, daß von ihren Lumpen Fluten auf die Fliesen strömten, und die üble Laune der Magd nahm noch zu, als ihr das Fräulein befahl, ein Bündel Reisig anzustecken, um sie ein wenig zu trocknen. Man trug die Bank vor den Herd. Bald saß da eine Schar fröstelnd aneinandergedrängter, frecher, heimtückischer Rangen, die mit den Augen das Umherliegende verschlangen, angegriffene Liter Wein, einen Fleischrest, ein auf einen Block hingeworfenes Bündel Möhren.
»Daß so etwas erlaubt ist,« fuhr Veronika zu brummen fort, »erwachsene Kinder, die schon ihren Lebensunterhalt verdienen müßten!... Sie lassen sich bis zu fünfundzwanzig Jahre wie Bälge behandeln, wenn es Ihnen so paßt.«
Das Fräulein mußte sie bitten, den Mund zu halten.
»Bist du zu Ende?... Wenn sie wachsen, macht sie das noch nicht satt.«
Pauline hatte sich der Bank gegenüber gesetzt, das Geld und die in Natur gegebenen Geschenke vor sich, als Lazare, der stehen geblieben war, zornig wurde, sowie er den Sohn Houtelards unter der Schar bemerkte.
»Ich hatte dir zu kommen verboten, großer Taugenichts... Schämen sich deine Eltern nicht, dich hierher betteln zu schicken? Sie haben doch zu essen, während andere vor Hunger sterben.«
Der Sohn der Houtelard, ein magerer, fünfzehnjähriger, zu schnell aufgeschossener Junge mit einem traurigen, furchtsamen Gesicht, fing an zu weinen.
»Sie schlagen mich, wenn ich nicht gehe. Die Frau hat den Strick genommen, und Vater hat mich hinausgejagt.«
Er schlug den Ärmel in die Höhe, um das blaue Mal eines Schlages mit einem geknoteten Stricke zu zeigen. Die Frau war eine von seinem Vater geheiratete ehemalige Magd, die ihn mit Schlägen fast umbrachte. Seit ihrem Ruin hatten die Härte und der Schmutz ihres Geizes noch zugenommen. Jetzt lebten sie im Schmutz und rächten sich an dem Kleinen. »Lege ihm einen Arnikaumschlag auf den Ellbogen«, sagte Pauline sanft zu Lazare.
Dann reichte sie dem Kinde ein Fünffrankenstück.
»Hier! Gib ihnen das Geld, damit sie dich nicht mehr schlagen. Wenn sie dich dennoch schlagen, wenn am nächsten Sonnabend dein Körper Spuren von Schlägen aufweist, bekommst du nicht einen Heller mehr, sage es ihnen.«
Längs der Bank kicherten die anderen Bälge, durch die Flamme, die ihren Rücken wärmte, heiter gestimmt, und stießen sich mit den Ellbogen in die Seiten. Ihre Kleider dampften, von ihren nackten Füßen fielen dicke Tropfen nieder. Einer von ihnen, ein ganz kleiner Kerl, hatte eine Rübe gestohlen, an der er heimlich knabberte.
»Cuche, stehe auf«, begann Pauline wieder. »Hast du deiner Mutter gesagt, daß ich darauf rechne, bald ihre Aufnahme in das Siechenhaus von
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