Die Lebensfreude
die sie sich vom Morgen bis zum Abend beklagte. Als der Arzt dann von einem Aufenthalte in einem Gebirgsorte sprach, fühlte er darin eine Erleichterung, daß er sie zu seiner Schwägerin geleiten und auf vierzehn Tage, unter dem Vorwande seinen Vater in Bonneville besuchen zu wollen, entschlüpfen konnte. Im Grunde schämte er sich dieser Flucht. Aber er setzte sich mit seinem Gewissen auseinander; eine kurze Trennung werde beider Nerven beruhigen, genug, daß er zur Zeit der Niederkunft da sei.
An dem Abend, an dem Pauline endlich die ganze Geschichte dieser verflossenen achtzehn Monate erfuhr, versagte ihr einen Augenblick die Stimme, sie war wie betäubt von diesem Unglück. Es war im Speisezimmer; sie hatte Chanteau zu Bett gebracht, und Lazare hatte eben seine Bekenntnisse angesichts des erkalteten Teekessels unter der kohlenden Lampe beendet. Nach einem Schweigen sagte sie endlich:
»Ihr liebt euch nicht mehr; großer Gott!«
Er hatte sich erhoben, um hinaufzugehen, und widersprach ihr mit seinem unruhigen Lachen.
»Wir lieben uns so sehr, wie man sich lieben kann... Du weißt nichts in deinem Loche hier? Warum soll es mit der Liebe besser bestellt sein als mit allem übrigen?«
Sobald Pauline sich in ihr Zimmer eingeschlossen hatte, bekam sie einen ihrer Verzweiflungsanfälle, die sie so oft auf jenem Stuhle in Qualen wachgehalten hatten, während das ganze Haus schlief. Fing das Unglück wirklich an? Nachdem sie alles für die anderen und für sich selbst beendet glaubte, als sie sich das Herz ausgerissen hatte, bis zu dem Punkte, Lazare an Luise zu geben, erkannte sie plötzlich die Nutzlosigkeit ihres Opfers: sie liebten sich bereits nicht mehr, sie hatte vergeblich Tränen geweint und das Blut ihres Martyriums verspritzt. Auf dieses elende Ergebnis, auf diese neuen Schmerzen und bevorstehenden Kämpfe, deren Vorgefühl ihre Qual vermehrte, lief es also hinaus. Man hörte also nie auf zu leiden!
Mit schlaff herniederhängenden Armen sah sie starren Auges ihre Kerze brennen, der Gedanke, daß sie die einzig Schuldige an diesem Abenteuer sei, stieg aus ihrem Gewissen empor und quälte sie. Sie kämpfte vergeblich gegen die Tatsachen: sie allein hatte diese Heirat beschlossen, ohne zu begreifen, daß Luise nicht die Frau war, deren Lazare bedurfte. Jetzt sah sie jene genau vor sich. Luise war zu nervös, um ihn im Gleichgewichte zu erhalten, weil sie selbst immer nahe daran war, beim geringsten Windhauch den Kopf zu verlieren; sie besaß nur den einzigen Reiz einer Geliebten, der ihm bald überdrüssig geworden war. Warum fielen ihr alle diese Dinge erst heute auf? Hatten sie nicht die nämlichen Gründe veranlaßt, Luise ihren Platz einzuräumen? Früher fand sie diese liebenswerter, es schien ihr, als habe, diese Frau die Macht, Lazare mit ihren Küssen aus seinen düsteren Stimmungen zu reißen. Welches Elend! Böses tun, während man das Gute will, das Leben so schlecht kennen, daß man die Leute vernichte, deren Heil man im Auge hat! Sie hatte sicher geglaubt, gut zu sein, ihr Werk der Barmherzigkeit dauerhaft zu machen, an dem Tage, an dem sie deren Freude mit so heißen Tränen erkauft hatte. Sie fühlte eine große Verachtung vor ihrer Güte, weil die Güte nicht immer das Glück ausmachte.
Das Haus schlief, sie hörte in der Lautlosigkeit des Zimmers nur das Hämmern ihres Blutes, dessen Wogen an ihre Schläfen schlugen. Das war ein Aufruhr, der langsam anschwoll und losbrach. Warum hatte sie nicht Lazare geheiratet? Er gehörte ihr, sie hatte die Macht, ihn nicht hinzugeben. Vielleicht wäre er anfangs darüber verzweifelt, aber sie hätte es wohl verstanden, ihm später ihren Mut einzuflößen, ihn gegen die törichten Alpdrücke zu verteidigen. Sie hatte immer die Torheit besessen, an sich selbst zu zweifeln, darin lag die einzige Ursache ihres Unglücks. Das Bewußtsein ihrer Kraft, alle ihre Gesundheit, alle ihre Zärtlichkeit grollte, machte sich endlich geltend. War sie nicht mehr wert als die andere? Welche Torheit also hatte sie veranlaßt, sich so in den Schatten zu stellen? Jetzt verleugnete sie ihm sogar ihre Leidenschaft trotz ihrer Hingabe einer sinnlichen Geliebten, denn sie fand in ihrem eigenen Herzen eine größere Leidenschaft vor, die sich dem geliebten Wesen opfert. Sie liebte ihren Vetter heiß genug, um zu verschwinden, wenn die andere ihn glücklich gemacht hätte; da aber die andere das große Glück, ihn zu besitzen, nicht zu wahren wußte, sollte sie da nicht lieber
Weitere Kostenlose Bücher