Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Lebensfreude

Die Lebensfreude

Titel: Die Lebensfreude Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emil Zola
Vom Netzwerk:
hatten; sie erzählte lange Geschichten ohne Zusammenhang, von Zwischengedanken abgeschnitten, deren Einzelheiten selbst der Magd neu waren, die doch im Dienste der Chanteaus ergraut war. Wie jene Kästchen, die man um die vergilbten Briefe aus früheren Zeiten erleichtert, schien sie vor dem Ende ihren Kopf von den Jugenderinnerungen zu befreien. Pauline empfand trotz ihres Mutes einen Schauder vor diesem Unbekannten, dieser unfreiwilligen Beichte, die durch die Arbeit des Todes auf die Oberfläche getrieben wurde. Jetzt wurde das Haus nicht mehr von dem Atem, sondern von dem erschrecklichen Geschwätz erfüllt. Wenn Lazare an der Tür vorüberging, fing er einige Sätze auf. Er suchte, sie sich zurechtzulegen, verstand jedoch ihren Sinn nicht und war darüber bestürzt wie über eine ihm unbekannte Geschichte, die seine Mutter bereits vom Jenseits des Lebens her mitten unter unsichtbaren Leuten erzählte.
    Als Doktor Cazenove kam, fand er Chanteau und den Abbé Horteur im Speisezimmer beim Damespiel. Man hätte glauben können, sie säßen noch an derselben Stelle und setzten die Partie vom vorgehenden Tage fort. Neben ihnen saß Minouche und schien in das Studium des Damebrettes vertieft. Der Pfarrer war am frühen Morgen gekommen, um seinen Posten als Tröster wieder einzunehmen. Pauline sah jetzt nichts Unpassendes mehr in dem Besuche des Geistlichen bei der Kranken. Als der Arzt kam, gab er das Spiel auf, begleitete den Doktor zu der Kranken und stellte sich ihr als Freund vor, der sich nach ihrem Befinden erkundigen wolle. Frau Chanteau erkannte beide noch, sie wollte an die Kopfkissen gelehnt werden und bewillkommnete sie als schöne Frau von Caen an ihrem Empfangstage in einem lichten, lächelnden Phantasieren. Der gute Doktor müsse mit ihr zufrieden sein, nicht wahr? Sie werde bald aufstehen; und beim Abbé erkundigte sie sich höflich nach seiner Gesundheit. Dieser war zwar in der Absicht heraufgekommen, seine Pflichten als Priester zu erfüllen, wagte aber, von diesem schwatzhaften Todeskampfe erschüttert, nicht den Mund zu öffnen. Außerdem war Pauline zugegen, die ihn verhindert hätte, auf gewisse Gegenstände näher einzugehen. Sie selbst hatte die Kraft, eine zutrauliche Heiterkeit zu heucheln. Als die beiden Männer sich zurückzogen, begleitete sie dieselben bis auf den Treppenabsatz, wo ihr der Arzt mit leiser Stimme Unterweisungen für die letzten Augenblicke gab. Die Worte von schleuniger Auflösung wurden wiederholt laut, während aus dein Zimmer noch immer das wirre Geschwätz, der unversiegbare Redefluß der Sterbenden zu vernehmen war.
    »So meinen Sie also, daß sie den heutigen Tag noch überlebt?« fragte das junge Mädchen.
    »Ja, sie wird zweifelsohne noch bis morgen aushalten«, erwiderte Cazenove. »Aber richten Sie sie nicht mehr auf, sie könnte Ihnen in den Armen bleiben. Übrigens werde ich heute abend wiederkommen.«
    Es wurde beschlossen, daß der Abbé bei Chanteau bleiben und ihn auf die Katastrophe vorbereiten solle; Veronika hörte auf der Türschwelle mit bestürzter Miene von diesen Vorkehrungen. Seitdem sie an die Möglichkeit des Todes ihrer Frau glaubte, tat sie die Lippen nicht mehr auseinander und bemühte sich mit der Ergebenheit eines Lasttiers eifrig um sie. Plötzlich aber verstummten alle, Lazare kam nach oben; er war im Hause umhergeirrt, ohne die Kraft zu gewinnen, den Besuchen des Arztes beizuwohnen und sich über die Gefahr genau zu vergewissern. Das plötzliche Schweigen, mit dem er empfangen wurde, belehrte ihn wider Willen. Er wurde sehr bleich. »Mein lieber Junge, Sie sollten mich begleiten«, sagte der Arzt. »Frühstücken Sie mit mir, ich bringe Sie heute abend zurück.«
    Der junge Mann wurde noch bleicher.
    »Nein, danke,« murmelte er, »ich will mich von hier nicht entfernen.«
    Von dem Augenblicke an harrte Lazare mit einer entsetzlichen Beklemmung in der Brust aus. Ein eiserner Gürtel schien ihm den Leib zusammenzupressen. Der Tag wurde zur Ewigkeit und verstrich dessenungeachtet, ohne daß er gewußt hätte, auf welche Weise die Stunden dahinflossen. Er konnte sich nie darauf besinnen, was er getan hatte, wie oft er hinauf- und heruntergestiegen und das Meer von weitem betrachtet hatte, dessen ungeheures Wiegen ihn vollends betäubte. Der unbesiegbare Lauf der Minuten verkörperte sich für Augenblicke, wurde in ihm zum Drängen eines Granitblockes, der alles dem Abgrunde zufegte. Dann wieder ereiferte er sich; er hätte gewollt, es sei

Weitere Kostenlose Bücher