Die Legende
sorgen, daß die Petition mit dem nächsten verfügbaren Reiter befördert wird.«
»Danke, Orrin. Das ist sehr zivilisiert von dir«, sagte Beric. »Können wir uns jetzt mit den abgerissenen Häusern beschäftigen?«
Ulric saß vor dem Kohlebecken, einen Schaffellmantel um den nackten Oberkörper geschlungen. Vor ihm kauerte die ausgemergelte Gestalt seines Schamanen Nosta Khan.
»Was meinst du?« fragte Ulric ihn.
»Wie ich schon sagte, ich kann nicht länger über der Festung reisen. Dort ist eine Barriere für meine Macht. Letzte Nacht, als ich über Todeswanderer schwebte, spürte ich eine Kraft wie ein Sturmwind. Sie stieß mich zurück bis hinter die äußere Mauer.«
»Und du hast nichts gesehen?«
»Nein. Aber ich spürte … fühlte …«
»Sprich!«
»Es ist schwierig. In meinem Geist konnte ich das Meer und ein schlankes Schiff spüren. Es war nur ein Fragment. Da war auch ein Mystiker mit weißem Haar. Ich habe lange darüber gerätselt. Ich glaube, Todeswanderer hat den weißen Tempel gerufen.«
»Und ihre Macht ist größer als deine?« fragte Ulric.
»Nur anders«, wich der Schamane aus.
»Wenn sie übers Meer kommen, dann wollen sie nach Dros Purdol«, überlegte Ulric und starrte in die glimmenden Kohlen. »Mach sie ausfindig.«
Der Schamane schloß die Augen, löste seinen Geist von allen Fesseln und stieg, befreit von seinem Körper, empor. Formlos eilte er hoch über die Ebene dahin, über Hügel und Flüsse, Berge und Ströme, am Delnoch-Gebirge entlang, bis schließlich das Meer unter ihm lag, im Licht der Sterne schimmernd. Weit mußte er ziehen, bis er, durch das winzige Glühen ihrer Hecklaterne, die Tunichtgut entdeckte.
Rasch sank er vom Himmel herab, bis er über dem Mast schwebte. An der Backbordreling standen ein Mann und eine Frau. Behutsam erkundete er ihren Geist; dann ließ er sich durch das hölzerne Deck treiben, durch den Laderaum und bis vor die Kabinen, in die er jedoch nicht eindringen konnte. Leicht wie das Wispern einer Meeresbrise berührte er den Rand der unsichtbaren Barriere. Sie verhärtete sich vor ihm, und er wich zurück. Er schwebte wieder an Deck, umfing den Seemann im Heck, lächelte und huschte dann zurück zu dem wartenden Herrscher der Nadir.
Nosta Khans Körper zitterte; seine Augen öffneten sich.
»Nun?« fragte Ulric.
»Ich habe sie gefunden.«
»Kannst du sie vernichten?«
»Ich glaube schon. Ich muß meine Akolyten zusammenrufen.«
Auf der Tunichtgut erhob sich Vintar von seinem Bett. Sein Blick verriet Unruhe, und seine Gedanken waren besorgt. Er reckte sich.
»Du hast es auch gespürt«, pulste Serbitar und schwang seine langen Beine aus der anderen Koje.
»Ja. Wir müssen auf der Hut sein.«
»Er hat nicht versucht, den Schild zu durchbrechen«, sagte Serbitar. »Ist das nun ein Zeichen von Schwäche oder von Zuversicht?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete der Abt.
Über ihm im Heck rieb der Matrose sich die Augen, legte eine Tauschlinge um das Ruder und richtete seinen Blick auf die Sterne. Er war immer schon von diesen flackernden, weit entfernten Kerzen fasziniert gewesen. Heute strahlten sie heller als gewöhnlich, wie Juwelen auf einem Samtmantel. Ein Priester hatte ihm einmal erzählt, es seien Löcher im Universum, durch die die strahlenden Augen der Götter auf die Menschen der Erde hinabsähen. Das war natürlich Unsinn, aber es hatte ihm gefallen.
Plötzlich schauderte er. Er drehte sich um, nahm seinen Mantel von der Reling und schlang ihn sich um die Schultern. Er rieb sich die Hände.
Hinter ihm schwebend, hob Nosta Khans Geistgestalt die Hände und konzentrierte seine Macht auf die langen Finger. Klauen, glitzernd wie Stahl, scharf und gekrümmt, wuchsen daraus. Langsam näherte er sich dem Seemann und stieß ihm die Krallen in den Kopf.
Brennende Qualen löschten das Hirn aus. Der Mann taumelte und fiel. Blut schoß aus Mund, Ohren und Augen. Ohne einen Laut starb er. Nosta Khan lockerte seinen Griff. Er zog die Macht seiner Akolyten an sich und befahl dem Toten durch Willenskraft, sich zu erheben, wisperte obszöne Worte in einer Sprache, die schon lange aus der Erinnerung gewöhnlicher Menschen getilgt war. Dunkelheit quoll um den Toten auf, wabernd wie schwarzer Rauch, und wurde durch den blutigen Mund eingesogen. Der Körper erzitterte.
Und erhob sich.
Da sie nicht schlafen konnte, zog Virae sich leise an, stieg an Deck und ging nach backbord. Die Nacht war kühl, die sanfte Brise beruhigend.
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