Die Legende der Alten: Teil 2: Wiederkehr (German Edition)
den Blick in eine größere Höhle unter ihr frei. Die Leiter, die nach unten führte, war abgebrochen. Die Reste baumelten mehrere Meter über dem Boden der Höhle in der Luft. Im Augenwinkel sah Nomo einen dunklen Schatten vorbeihuschen. Er verschwand in einer Röhre in der Wand der Höhle. Zu groß für eine Ratte. Nomo hielt die Fackel in das Loch, lauschte eine Weile. Nichts rührte sich mehr, die Geräusche hörten auf, Stille. Sie schüttelte kurz den Kopf und lief dann weiter. Als sie plötzlich an einer Kreuzung deutlich Stimmen hörte, zuckte sie zusammen.
„Pst weiß nicht mehr. Pst hat vergessen“
„Du hast nur Angst“
„Kex?“, flüsterte Nomo zu sich selbst und horchte noch einmal genauer.
„Du willst mir den Weg nicht zeigen, weil du Angst hast“
„Kex!“, rief Nomo laut.
Doch ihr Ruf wurde von einem lauten Rattern übertönt. Der Boden unter ihren Füßen vibrierte. Vor Schreck suchte Nomo an der Wand halt. Sie fürchtete, der Gang könnte einstürzen. Nach wenigen Augenblicken entfernte sich das Rattern, verschwand schließlich ganz. Aber auch Kex Stimme hörte sie nicht mehr, einzig ein Wassertropfen, der vor ihr auf den Boden platschte, durchbrach die Stille.
„Kex!“, rief Nomo noch einmal.
Sie bekam keine Antwort. Wenig später erreichte Nomo eine Leiter nach oben. An deren Ende führte eine Öffnung ins Freie. Einige Grasbüschel wuchsen an deren Rand. Tageslicht fiel herein, auch wenn nur einen knappen halben Meter oberhalb der Öffnung Bretter den Weg versperrten. Eine Katze fauchte erschrocken auf, als Nomo ihren Kopf aus der Öffnung steckte, und rannte dann davon. Nomo löschte die Fackel und kroch unter den Brettern hervor. Sie stand in einer schmalen Seitengasse, mitten in der Stadt.
***
Von dem Jungen fehlte jede Spur. Kex suchte im weiten Umkreis um das Lager, stöberte einige Gänge entlang, ohne Erfolg. Anfangs hatte ihn Pst begleitet, jetzt wartete der alte Mann im Lager. Ohnehin gab sich Pst über das Verschwinden des Jungen weit weniger aufgeregt als Kex. Vielleicht hatte der alte Zausel den Jungen einfach davon gejagt. Schwer vorstellbar zwar, so ängstlich wie Pst sich bisweilen zeigte, doch was wusste Kex schon. Ist die Angst nur groß genug, schlägt sie womöglich auch bei Pst in verzweifelte Wut um. Aber egal ob Pst ihn nun verjagt, oder er sich einfach nur davongeschlichen hatte, der Junge war weg. Kex gab seine Suche auf. Mit hängenden Schultern schlich er zum Lager zurück. Er empfand das Verschwinden des Jungen als persönliche Niederlage. Wut und Trauer vermischten sich. Als Retter eignete er sich offensichtlich nicht so gut. Ja, er hatte sich eingebildet, den Jungen vor diesem armseligen Schicksal als Menschenfresser retten zu können, wollte ihn aus dieser Dunkelheit befreien. Dabei wusste er nicht einmal, ob er es selbst jemals wieder an die Oberfläche schaffen würde. Immerhin dafür gab es einen Hoffnungsschimmer, Pst hatte eingewilligt, ihm den Weg zu zeigen. Das galt natürlich nur, solange sich der launische alte Mann noch an sein Versprechen erinnerte.
„Können wir gehen?“, fragte Kex als er ins Lager zurückkehrte.
„Pst hat Würmer gesammelt, besondere Würmer. Sehr lecker“, antwortete Pst.
„Hör mal Pst, du hast gesagt, du kennst den Weg in die Stadt. Du wolltest ihn mir zeigen“, sagte Kex.
„Pst erinnert sich nicht. Pst kennt keinen Weg. Böse Männer warten in der Stadt, werden Jungen und Pst töten. Besser bleiben hier unten. Böse Männer kommen nicht hierher, haben Angst vor stählerner Schlange und vor Menschenfressern. Junge sollte jetzt seine Würmer essen“, sagte Pst, während er sich schon wieder seinen Zeigefinger zwischen die Zähne klemmte.
„Gut, wenn du nicht willst … Zur Grube finde ich auch allein“, sagte Kex.
„Nein, Junge nicht gehen. Menschenfresser warten in Grube. Grube ist nicht Weg in die Stadt. So leckere Würmer“, bettelte Pst und hielt Kex eine Handvoll weiß schimmernder, sich windender Maden entgegen.
„Dann zeige mir den richtigen Weg. Du hast es versprochen!“, beharrte Kex, nahm aber einige der Maden aus der Hand von Pst.
Sie schmeckten tatsächlich besser, als die Würmer, die bisher auf dem Speisezettel standen. Nachdem sich Pst nicht rührte, verschränkte Kex enttäuscht die Arme vor der Brust, atmete noch einmal tief durch und stapfte dann demonstrativ davon. Er hatte den ersten Gang, der vom Lager wegführte, noch nicht einmal erreicht, als ihn Pst
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