Die Legende der Alten: Teil 2: Wiederkehr (German Edition)
hatten es verrotten lassen. Kex beugte sich über den Rand des Loches und blickte nach unten. Dunkelheit, nirgends der schwache Schimmer der lumineszierenden Pilze, die Pst immer bei sich trug.
„Ich muss erst ein Seil holen. Ich komme wieder und hole dich nach oben, Pst? Hörst du?“, rief Kex.
Er bekam keine Antwort.
***
Ein leichtes Kribbeln breitete sich in Nomos Bauch aus, als sie durch die Stadt lief. Keine Wachen beschützten sie, niemand begleitete sie. Allein, fremd, auf sich gestellt, beängstigend und erregend zugleich. Insgeheim dankte sie Hem bereits für die Aufgaben der letzten Tage. Eine Küchenmagd, ein Dienstmädchen hielt den Kopf gesenkt, ging still ihrer Arbeit nach. So jemand fiel nicht auf, so jemand war für die meisten Menschen unsichtbar. Dies galt für den Palast, aber – wenn auch in abgeschwächter Form – ebenso für die Stadt. Die einfache, nicht eben weibliche Kleidung, die Nomo trug und die auf dem Weg durch die Tunnel unter der Stadt hier und da einen schmutzigen Flecken abbekommen hatte, tat ihr übriges. Zudem schienen die meisten Menschen mit sich selbst beschäftigt. Die Stadt zeigte sich so lebhaft wie an jenem Markttag, selbst aus der kleinsten Gasse kroch noch jemand hervor. Natürlich, heute war ihr Vater in der Stadt, ein besonderer Tag. Die Leute wollten ihren König sehen. Nomo ließ sich mit der Menge treiben, ihr Weg führte sie zum Marktplatz. Aus verwinkelten kleinen Gassen wurden schon bald breitere Straßen mit noch mehr Menschen. Letztlich öffnete sich die Straße zu einem großen Platz. Ohne die Stände der Händler sah er irgendwie nackt aus, trotz der vielen Menschen, die sich auf ihm drängten. Am anderen Ende des Platzes ragte ein etwas erhöhtes Podest auf, Nomos Vater und Hem standen darauf. Davor glitzerten die Speerspitzen der Wachen in der Sonne. Nomo war ein wenig stolz auf sich selbst. Unbemerkt von allen und ungeachtet des Verbots ihrer Mutter würde sie an diesem Ereignis teilhaben. Sie kicherte sogar bei der Vorstellung, wie sie Hem von den Geschehnissen hier berichtete.
„Er wird staunen“, sagte sie laut.
Zwei junge Männer neben ihr, schauten irritiert. Gut, dass ihr Gesichtstuch Nomos Grinsen verbarg. Sie presste die Lippen zusammen, drehte den Kopf weg und zwängte sich durch die Menge weiter nach vorn.
***
Kex tastete sich aus dem Keller nach oben. Endlich fiel ein wenig Licht durch einige Ritzen, er war im Erdgeschoß angekommen, das Haus allerdings nur noch eine eingefallene Ruine, Trümmer versperrten den Weg. Ein riesiger Haufen aus Schutt, morschen Balken und Brettern. Kex musste sich nach außen graben. Da, wo bereits Licht einen Ausgang vermuten ließ, zerrte er Steine zur Seite, rüttelte an den Balken, zerbrach Bretter, bis er endlich mit einer letzten vehementen Anstrengung durch die Trümmer ins Licht des Tages stieß. Zwei kleine Jungen, die unweit der Ruine spielten, rannten erschrocken davon.
„Mama, Mama!“, schrien sie, „Ein Geist ist aus der Ruine gekommen“
Kex kniff die Augen zusammen, schützte sie mit der Hand gegen das grelle Licht. Tränen rannen ihm über die Wangen, er benötigte eine Weile, bis er sich orientieren konnte. Er stolperte aus der Ruine auf die Straße. Ein Passant musterte ihn argwöhnisch, machte dann eilig einen großen Bogen um Kex. Kex sah an sich herab, er war beinahe nackt. Nur noch ein paar Fetzen Kleidung hingen an ihm herab, derartig verdreckt, dass sich selbst der schäbigste Bettler von ihm abwenden würde. So konnte er unmöglich länger herumlaufen, er benötigte dringend neue Kleidung. Kex zog sich zurück in den Schatten einer Nische zwischen zwei Häusern, auch weil das grelle Licht noch immer in seinen Augen brannte. Weitere Passanten zogen an ihm vorbei, alle in Richtung Markt. War heute Markttag? Nach den Wochen – oder waren es Monate gewesen – im Kerker und unter der Stadt fehlte Kex jegliches Zeitgefühl. Aber das spielte jetzt keine Rolle, zuerst musste er sich etwas zum anziehen besorgen. Kex kletterte nach oben, die Nische war dazu eng genug. Oben auf den Dächern beobachtete ihn niemand, auch wenn hier die Sonne unerbittlich auf seinen ausgemergelten Körper brannte. Am Horizont zeigten sich einige kleine Wolken, Vorboten des nahen Winters. Sie versprachen Abkühlung, Regen. Kex wanderte über die Dächer, suchte sich seinen Weg zu den Terrassen der wohlhabenderen Bürger, sprang über schmale Gassen hinweg, hoch oben über den Köpfen der Passanten. Die
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