Die Legende der Dunkelheit: Thriller
wich einem verwirrten Ausdruck. Er schaute seinen Sohn an, doch seine Augen hatten Mühe zu erkennen, was er da sah. Es war wie eine Sinnestäuschung, ein Bild, das nur ganz langsam scharf wurde. Und dann begriff er mit einem Schlag.
»Jacob?«, sagte Howard langsam.
Xiao starrte seinen Vater an. Er sammelte sich, versuchte, ruhig zu bleiben. Jahrelang hatte er sich diesen Augenblick vorgestellt. Seine Träume und Fantasien davon, was er dem Mann antun wollte, der seine Mutter ermordet hatte, hatten sich mit der Zeit verändert, und der unbestimmte Zorn des Kindes hatte sich in das methodische Vorgehen eines erwachsenen Mannes verwandelt, der Übung im Töten hatte. Xiao betrachtete die Gesichtszüge seines Vaters, das markante Kinn und die scharfe Nase, die er selbst auch hatte. Das war ein Mensch, den er geliebt hatte, den er verehrt hatte, jemand, der die ersten zehn Jahre seines Lebens geprägt hatte.
Doch seine prägendsten Jahre, die letzten fünfzehn, in denen er ein Mann geworden war, in denen er unter dem Einfluss von Kwon, China und Macao gestanden hatte, waren viel bedeutungsvoller gewesen und verdrängten die Erinnerungen an diese Gefühle. Und alles wurde überschattet von der Wut darüber, dass er aus seiner Kindheit gerissen worden war, von den grauenvollen Albträumen vom brutalen Mord an seiner Mutter auf der Straße, und diese Wut richtete sich gegen einen einzigen Menschen.
»Mein Gott.« Howard stand da, zutiefst erschüttert, und in seinem Gesicht spiegelten sich widerstreitende Gefühle. Schließlich gaben seine Knie nach, und er setzte sich auf das Sofa. Seine Gedanken rasten, doch er verzog ganz langsam den Mund zu einem Lächeln. »Sieh mal einer an.«
Xiao lauschte und war entsetzt über den Ton in der Stimme seines Vaters, in der Stolz mitschwang. Denn er hatte immer gedacht, dass sein Vater ihn ebenso hasste, wie er seine Mutter gehasst hatte.
»Warum hast du das getan?«
»Was getan?«, fragte sein Vater, doch Xiao konnte sehen, dass er genau wusste, was er meinte.
Langsam trat Xiao auf seinen Vater zu, baute sich vor ihm auf, holte aus und schlug ihm mit Wucht gegen den Kopf.
»Du hast meine Mutter umgebracht.«
Entsetzt riss Howard die Arme hoch, um den nächsten Schlag abzuwehren.
»Du kannst es nicht abstreiten.« Xiao packte seinen Vater am Arm, zerrte ihn vom Sofa und stieß ihn auf den Schreibtischstuhl mit der hohen Rückenlehne. Er drehte den Stuhl herum, zog Kabelbinder aus der Jackentasche und fesselte Howard an den Stuhl. »Sie hat dich geliebt.«
»Und ich habe sie geliebt.«
Xiao ballte die Faust, schlug seinen Vater mit voller Wucht auf die Nase, sodass sie brach. Das Blut schoss heraus, tropfte auf sein weißes Golfhemd.
»Nein. Ein Mann tötet nicht das, was er liebt. Es sei denn …«, fügte er langsam und mit einem traurigen Unterton hinzu, »… er liebt sich selbst mehr.«
Beschämt senkte Howard den Kopf. »Für das, was ich getan habe, werde ich in der Hölle schmoren.«
»Dad?« Aus der Diele vernahm Xiao den Klang seiner eigenen Stimme, doch es war nicht er, der da rief.
Xiao sah seinen Vater an. »Einen Mucks, und ich bringe ihn um.«
Xiao trat in die Diele und sah Isaac dort stehen.
Eine kleine Ewigkeit verging, bis Isaac begriff, wer der andere Mann war. Die beiden Brüder starrten einander an, und die Gefühle überschlugen sich.
Isaac war fast eine Kopie seines Bruders, nur dass er kürzere Haare und einen muskulöseren Körper hatte. Ansonsten war es, als würden sie in einen Spiegel schauen.
»Mein Gott, ich hätte nie gedacht, dass ich dich je wiedersehen würde.«
Xiao schwieg.
»Wo warst du?«
»In China«, sagte Xiao endlich.
»Die ganzen Jahre?«
Xiao nickte.
»Wir haben gedacht …«
»Dass ich tot bin?«
»Ja … nein. Nach der langen Zeit dachte ich nur, ich würde dich nie wiedersehen. Und unsere Mom?«
Xiao schüttelte den Kopf.
Trauer legte sich auf Isaacs Züge.
»Warum kommst du nicht herein?«, sagte Xiao und wies in Richtung Arbeitszimmer.
Und im nächsten Moment betraten sie den Raum, und Isaac sah seinen verprügelten und blutenden Vater an einen Stuhl gefesselt. Hastig drehte er sich um. »Was geht hier vor?«, fragte Isaac verwirrt.
» Dad «, Xiao stockte einen Moment, »wird dir gleich erzählen, was Mom zugestoßen ist.«
Verstört sah Isaac ihn an, denn jetzt zielte Xiao mit einer Pistole auf ihn, zwang ihn, sich hinzusetzen, und zog mit der anderen Hand weitere Kabelbinder aus seiner
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