Die Legende der Dunkelheit: Thriller
seinem Abschlussball mit einer durchschnittlich aussehenden Brünetten. Es war eine chronologische Fotoserie, durch und durch amerikanisch, ganz anders als seine eigene Jugend.
Und einen Moment lang empfand er Bedauern und Sehnsucht nach seinem Bruder, den man ihm vor so vielen Jahren genommen hatte. Die Bilder aus Isaacs Leben zu sehen war, als würde er auf einen Traum von seinem eigenen Leben schauen, als sähe er eine Welt, die es hätte geben können.
Manchmal war er in der Nacht schweißgebadet aufgewacht und hatte sich nach der Liebe und der Wärme seiner toten Mutter gesehnt. Und dann dachte er an seinen Bruder, den einzigen Menschen, dem er seines Erachtens trauen konnte, denn obwohl man sie getrennt hatte und jeder auf einem anderen Kontinent groß geworden war, waren sie immer noch Brüder, durch Geburt miteinander verbunden, für immer miteinander verknüpft. Er fragte sich, ob Isaac wohl genauso unter der Trennung gelitten hatte wie er und ob er sich manchmal fragte, wohin sein Bruder wohl verschwunden war, und ob er wusste, was ihr Vater verbrochen hatte, ob er je den Verdacht gehegt hatte, dass ihr Vater ihre Mutter hatte ermorden lassen.
Er hatte oft an Isaac gedacht, aber er hatte nie versucht, Kontakt mit ihm aufzunehmen – bis jetzt. Und obwohl er voller Hass war auf ihren Vater und obwohl er die Absicht hatte, ihn zu töten, sehnte er sich danach, Isaac wiederzusehen. Doch wenn er seinen Plan in die Tat umsetzte, dann wäre die Möglichkeit dahin, dass es je so weit käme, denn sein Bruder würde es nie verstehen.
Für den Bruchteil einer Sekunde bereute er, dass er hergekommen war, dass er einen Vatermord erwogen hatte, dass er daran gedacht hatte, seinen eigenen Blutsverwandten zu töten. Vielleicht hatte sein Onkel sich geirrt. Vielleicht war es gar nicht sein Vater gewesen, der ihre Mutter getötet hatte. Vielleicht …
Und dann fiel sein Blick auf das letzte Regal mit Bildern, und was er dort sah, jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Dort stand ein Foto, das seinen Bruder in Gardeuniform zeigte, bei seiner Abschlussfeier. Er war in die Fußstapfen ihres Vaters getreten und Soldat geworden, ein Mann des Krieges. Isaac war wie ihr Vater geworden.
Und Jacob verschwand. Jetzt gab es nur noch Xiao, und der wurde mit jeder Sekunde zorniger, nicht nur auf seinen Vater, sondern auch auf seinen Bruder. Denn der verschmolz nun mit der Welt des Mannes, der seine Mutter ermordet hatte.
Über dem Kamin hing das Schwert seines Bruders, das keinerlei Ähnlichkeit hatte mit dem, was im Fernen Osten hergestellt wurde. Diese Klinge hier war nicht Tausende Male gehärtet worden wie die eines japanischen Katana, hier hatte man nicht auf jedes Detail geachtet wie bei einem chinesischen dao . Das hier war Massenware, eine Waffe, die man bei einer Parade, bei einer Beerdigung oder bei sonst irgendeiner Zeremonie mit sich herumtrug.
Er betrachtete das Regal, das er noch aus seiner Jugend in Erinnerung hatte und das vom Boden bis zur Decke reichte, anderthalb Meter breit war und in dem Bücher, Seekarten und Akten standen. Diese Dokumente bezogen sich auf die Orte, zu denen er allein mit seinem Boot gesegelt war. Als er, Jacob, noch ein Kind gewesen war, hatte er nicht auf die Namen der Orte geachtet, doch jetzt las er sie: Bermudas, Osterinseln, Azoren, Tahiti, die Seychellen. Das unterste Regalbrett war leer bis auf einen handgeschriebenen Aufkleber.
Es war seine Lieblingsgeschichte gewesen, die aus einem Roman von Robert Louis Stevenson hätte stammen können, eine Geschichte, in der es um einen Schatz ging und um Zauberei, um Leben und Tod. Sein Vater hatte immer von der Insel erzählt, als gäbe es sie nur im Märchen. Noch einmal schaute er auf den Namen auf der Beschriftung, zwischen all den anderen Aufschriften mit den Namen von Inseln, die es wirklich gab. Und es erschütterte ihn bis ins Mark. Auf dem Aufkleber stand Penglai .
»Isaac?«, rief eine Stimme.
Xiao drehte sich nicht um, sondern starrte immer noch auf das Regal.
»Wie hast du es geschafft, schneller nach Hause zu kommen als ich?« Die Stimme von Xiaos Vater war immer noch so tief und kraftvoll, wie er sie in Erinnerung hatte, obwohl sie inzwischen leicht zitterte und rauchig geworden war vom Whisky, ein Zeichen des Alters.
Langsam wandte Xiao sich um und starrte seinen Vater an.
Howard lächelte, während er seinen Pullover auf das Sofa warf und sich schließlich dem Mann zuwandte, den er für Isaac hielt. Doch sein Lächeln
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