Die Legende der Dunkelheit: Thriller
selben Aufzug fahren wollte. Er beschloss, zu Hause anzurufen, gab die ersten Ziffern der Nummer ein.
Endlich hielt der Fahrstuhl auf seiner Etage. Als die Türen aufgingen und er die Kabine betrat, sah er, dass sein Handy kein Netz mehr hatte. Er steckte das Telefon in seine Jackentasche, und als er aufsah, stellte er fest, dass außer ihm nur noch eine Frau im Fahrstuhl war. Sie trug einen dunklen Bleistiftrock, einen dunkel karierten weiten Kurzmantel über einer weißen Seidenbluse und hatte eine große schwarze Tasche über die Schulter gehängt. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ihr in die Augen zu sehen, und musste sie genauso anstarren, wie sie ihn anstarrte, als sie ihn mit einem stummen Nicken grüßte.
Sie war knapp einen Meter siebzig groß, und ihr pechschwarzes Haar war zu einem exakten kurzen Bob geschnitten. Ihre Haut war schneeweiß und ganz glatt, sodass Michael unwillkürlich an Schneewittchen denken musste, allerdings schien diese Märchenfrau hier nicht unbedingt die reine Unschuld zu verkörpern. Sie bedachte Michael mit einem sinnlichen Lächeln, das verführerischerweise mehr von ihren großen braunen Augen ausging als von ihren tiefroten Lippen. Sie erreichten das Erdgeschoss, verließen den Fahrstuhl und gingen durch die große Eingangshalle auf den Hauptausgang zu. Sie dankte Michael mit einem Kopfnicken dafür, dass er ihr die Tür aufhielt, und sie traten hinaus auf die Park Avenue.
Sie ging gleich weiter, während Michael einen Moment lang stehen blieb und ihr mit den Augen folgte und sah, wie sie eintauchte in die nachmittäglichen Menschenmassen und die Hüften in dem schwarzen Prada-Rock schwang. Er musste grinsen, denn plötzlich stellte er sich vor, wie KC ihm auf die Schulter schlug, weil er dieser Frau nachstarrte. Trotz ihres Streits gehörte sein Herz immer noch ihr, und sie war reizvoller für ihn als diese schwarzhaarige Frau.
Er wollte sich gerade umdrehen, als wie aus dem Nichts ein Jugendlicher aus der Menschentraube schoss. Er warf Schneewittchen zu Boden, entriss ihr die Handtasche und rannte davon.
Im Nu herrschte Chaos. Mehrere Frauen kamen ihr zu Hilfe, während andere kreischend mit den Fingern auf den flüchtenden Dieb zeigten. Und in diesem Moment, da er Schneewittchen so hilflos auf dem Boden liegen sah, mit entsetztem Gesicht und Tränen in den Augen, gab es für Michael nur noch eins …
Er heftete den Blick auf den fliehenden Dieb und rannte ihm nach.
KC stand in der Eingangshalle und sah sich um. Die Tasche, die sie in aller Eile gepackt hatte, stand zu ihren Füßen. Es war nur eine Reisetasche. Es fiel ihr schwer zu entscheiden, was sie zum Anziehen mitnehmen sollte. Als sie vor über einem Jahr mit Michael zusammengezogen war, hatte sie nur eine einzige Tasche mit Kleidung besessen. Jetzt hatte sie einen ganzen Schrank voller Sachen, doch sie war viel zu verstört gewesen, um sich darauf konzentrieren zu können.
Sie versuchte, ihre Wut auf Michael zu zügeln, doch sie fühlte sich einfach hintergangen, wobei ihr durchaus bewusst war, dass einen nur die Menschen wirklich betrügen konnten, denen man vertraute.
Sie legte einen Brief auf den Esstisch und kämpfte mit den Tränen.
In ihrem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. Nachdem Michael gegangen war, hatte sie sich selbst ins Gebet genommen. War sie dabei, ihr Leben zu verpfuschen? Stand sie kurz davor, einen Schritt zu tun, den sie nicht mehr rückgängig machen konnte? Eine Beziehung war nicht immer gleich, es gab Höhen und Tiefen, aber um diesem Auf und Ab zu trotzen, musste man dem Menschen, mit dem man zusammen war, vertrauen können. Sie liebte Michael, doch sie kannte ihn genauso gut wie sich selbst. Als Simon sie fragte, hatte sie das gleiche aufregende Prickeln gespürt, das Michael empfunden hatte, allerdings war sie in der Lage gewesen, dem Drang zu widerstehen. Und wenn Michael das nicht konnte, wusste sie, dass er am Ende zu Tode kommen würde.
Seit sie erwachsen war, hatte sie sich nach einer Beziehung gesehnt, nach einem Mann, der sie in den Armen hielt, der sie liebte und umsorgte, etwas, was sie nie erfahren hatte, weder von einer Mutter noch von einem Vater oder von Bruder oder Schwester. Seit dem Tod ihrer Mutter war sie auf sich selbst gestellt; sie war damals fünfzehn gewesen, ihre Schwester neun. Um Geld zu verdienen, hatte sie sich aufs Stehlen verlegt – das Einzige, was sie tun konnte, um für ihre Schwester etwas zu essen zu beschaffen, damit sie
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