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Die Legende der Dunkelheit: Thriller

Die Legende der Dunkelheit: Thriller

Titel: Die Legende der Dunkelheit: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Doetsch
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konnten, egal, wie gut es an der Börse lief. Das sei alles Scheiße, sagte Rick. Die Leute heirateten, und Aktien stiegen und fielen infolge von Dingen, die Menschen taten, nicht das Schicksal. Statistiken bestimmten nicht die Zukunft; das Einzige, was die Zukunft bestimmte, waren die persönlichen Handlungen.
    Annabeth nahm sich seine Worte zu Herzen. Sie war entschlossen, älter zu werden als ihre Mutter und als die anderen Frauen in ihrer Familie. Sie verschrieb sich der Aufgabe, körperlich und geistig so fit zu werden, wie sie nur konnte.
    Doch ihre Welt brach abermals zusammen. Sie war fünfzehn Jahre alt, als drei Gang-Typen in ihr kleines Haus in New York City eindrangen. Sie fesselten die McGuinns und deren zwei Söhne im Wohnzimmer. Sie schleppten Annabeth in ihr Zimmer und fesselten sie mit ausgestreckten Armen und Beinen an ihr Bett und ließen sie so dort liegen, um das Haus zu plündern. Doch sie hatten noch ein anderes Ziel, als nur schnell etwas mitgehen zu lassen. Sie wollten fest in ihre Gang aufgenommen werden und waren darauf aus, sich ihre Sporen zu verdienen.
    Sie hörte vier Pistolenschüsse, und jeder ohrenbetäubenden Detonation gingen Schreie voraus, die mit dem letzten Schuss verstummten. Sie versuchte so heftig, sich von ihren Fesseln zu befreien, dass ihre Handgelenke und Fußknöchel bluteten. Die Tränen strömten ihr über das Gesicht bei der Vorstellung, was passiert war.
    Und dann betraten die drei ihr Zimmer.
*
    Rick kam an dem Abend spät nach Hause, weil er nach der Schule einen Job hatte. Es war fast Mitternacht, als er die Leichen fand. Er sah, was für eine Tragödie sich abgespielt hatte, und rannte in Annabeth’ Zimmer. Nackt und gefesselt lag sie da und starrte an die Decke. Aber sie lebte. Die Polizei verhörte die beiden jugendlichen Pflegekinder, weil sie zu Anfang dachten, sie seien in die Sache verwickelt, doch schon bald erkannten die Beamten, wie der Überfall in Wahrheit abgelaufen war, allerdings erst, als stichhaltige Beweise vorlagen, dass Annabeth wirklich vergewaltigt worden war. Sie erklärten Rick und Annabeth, dass alles getan werden würde, damit die Mörder geschnappt würden, doch sie konnten ihnen nichts versprechen.
    Rick, der achtzehn Jahre alt war und im Testament der McGuinns als Alleinerbe ihres kleinen Vermögens genannt wurde – ganze dreißigtausend Dollar –, übernahm die Vormundschaft für Annabeth. Er hatte sich zum Militärdienst verpflichtet und sollte drei Wochen später mit der Grundausbildung anfangen, doch angesichts der Umstände gewährte man ihm einen zeitlich unbegrenzten Aufschub.
    Annabeth war nur noch wie eine leere Hülle, sie redete kaum noch und wurde von stiller Wut zerfressen. Sie schlief bei eingeschaltetem Licht, verriegelte Türen und Fenster dreimal. Stundenlang weinte sie sich an Ricks Schulter aus, sie war untröstlich in ihrer Trauer und wie gelähmt vor Angst, abermals überfallen zu werden.
    Eines Abends holte Rick sie ab und zwang sie, das Haus zu verlassen, und brachte sie zu einem Schießstand. Er drückte ihr eine Pistole in die Hand und heuerte einen Lehrer an, der ihr Schießunterricht gab. Dreimal in der Woche gingen sie abends auf den Schießstand. Und zu Ricks Erstaunen, wie auch zu ihrem eigenen, stellte sie fest, dass sie ein Naturtalent war.
    Annabeth konnte die Mitte der Zielscheibe aus einer Entfernung von fünfzig Metern treffen. Jede Waffe, an der sie sich versuchte, war wie eine Verlängerung ihres Armes, ihres Verstandes. Ganz allmählich legte sich ihre Angst, denn sie lernte, sich zu schützen, lernte, wie sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen konnte. Dann brachte Rick sie zum Kampfsportunterricht, wo sie die Grundlagen der Selbstverteidigung lernte, Nahkampftechniken, die einfachen Griffe, die eine Frau anwenden konnte, um einen Angriff abzuwehren. Die Fähigkeit, sich ohne Waffe selbst zu schützen. Die Unterrichtsstunden riefen ihr immer wieder in Erinnerung, dass sie ihr Schicksal in der Hand hatte, und nicht irgendwelche Gang-Mitglieder, nicht irgendein Verbrecher auf der Straße, nicht irgendeine schicksalhafte Fügung.
    Da die Polizei nichts erreicht hatte im Falle des dreifachen Mordes und sich – wie es aussah – auch nicht besonders bemühte, die Mörder der McGuinns zu finden, begannen Rick und Annabeth selbst, nachts herumzufahren, in der Hoffnung, sie irgendwo zu sehen und den Behörden melden zu können. Und das passierte dann auch, eines Nachts, mitten auf der 179th Street.

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