Die Legende der Dunkelheit: Thriller
Luft roch, den Wind spürte und – und das war das Wichtigste – wie das Leben schmeckte.
Im Gegensatz zu ihrem Vater hasste ihre Mutter Lily das Meer und alles, was damit zu tun hatte. Sie konnte nicht schwimmen und hatte nicht das geringste Bedürfnis, es zu lernen. Da sie in Hongkong geboren und in Macao groß geworden war, stand sie mit beiden Beinen fest auf dem Boden. Sie war von Han-chinesischer Abstammung und eine unauffällige Schönheit mit dunklen, gefühlvollen Augen. Ihr schwarzes Haar, das aussah, als wäre es aus Seide, fiel ihr bis auf den Rücken und wurde von einem Kamm gehalten, der niemals fehlen durfte. Er war aus Jade und Elfenbein und steckte immer an der rechten Seite ihres Kopfes. Sie erzählte immer nur von der Zeit, nachdem sie Howard begegnet war. Als hätte es die Zeit davor nie gegeben – obwohl es sie traurigerweise sehr wohl gegeben hatte.
Im Alter von siebzehn Jahren war sie von zu Hause weggelaufen. Ihre Eltern waren ums Leben gekommen, man hatte sie in Macao mitten auf der Straße erschossen. Ihr älterer Bruder flehte sie an, bei ihm zu bleiben, versprach ihr, für sie zu sorgen, sie zu beschützen und sich darum zu kümmern, dass sie eine Ausbildung erhielt, doch sie konnte sich nicht damit anfreunden, welcher Art von Beschäftigung er nachging. Es wurde gemunkelt, dass er als Schläger für eine der lokalen Triaden tätig war. Ihr Bruder versuchte, ihr einzureden, dass er sich damit nur zu seiner Herkunft bekannte und in die Fußstapfen ihres Vaters trat, eines Mannes, den sie immer für einen einfachen und friedlichen Kaufmann gehalten hatte. Doch die Zeitungen, die über seinen Tod berichteten, erzählten von einem Fremden, von einem gewalttätigen Mann, der die Straßen kontrolliert hatte, von einem Menschen, der genau das Gegenteil von dem gewesen war, wie sie ihren Vater gesehen hatte. Sie kochte vor Wut, weil man ihr die Wahrheit verschwiegen hatte, und war außer sich, weil ihre Mutter an der Seite ihres Ehemannes mit zu Tode gekommen war.
Beschämt über ihre Herkunft, über das, was ihr Vater angerichtet hatte, und darüber, dass sein Blut in ihren Adern floss, packte sie mitten in der Nacht ihre Sachen und lief weg. Sie rannte so schnell sie konnte, suchte in Hongkong ein neues Leben und eine neue Welt. Sie änderte ihren Namen und legte sich eine neue Vergangenheit zu, behauptete, sie sei während des Krieges zur Waise geworden. Sie arbeitete als Kellnerin und als Hausmädchen, nahm jeden Job an und mietete sich ein kleines Zimmer im finstersten Viertel der riesigen Stadt. Weil sie eine Schönheit war, ergatterte sie schließlich einen Job am Empfang des Hong Kong Hilton.
Genau dort begegnete sie Admiral Howard Lucas, der fünfzehn Jahre älter war als sie, ein Offizier bei der Navy der Vereinigten Staaten. Ein gütiger Mann, ein Mann mit einem starken Charakter, der sein Land liebte, der seine Leute verteidigte, der bereit war, sein Leben einzusetzen für diejenigen, die seinem Befehl unterstanden. Er war genau so, wie sie ihren Vater immer gesehen hatte, bis sie an jenem verhängnisvollen Tag die bittere Wahrheit erfahren musste. Er war das Licht, ihr Vater der dunkle Schatten. Er war die Ruhe, ihr Vater der Sturm. Er war der Mann, der ihr Leben ins Lot bringen würde.
Trotz seines Alters eroberte er ihr Herz im Sturm und versprach ihr eine neue Welt, wollte sie mit nach Amerika nehmen. Sie fühlte sich zu ihm hingezogen, war begeistert von seiner Macht und seiner Würde und seinem geheimnisvollen irischen Aussehen – dunkelblaue Augen, pechschwarze Haare –, von seinen breiten Schultern und seiner umwerfenden Ausstrahlung. Schnell verliebte sie sich in ihn. Und da China ihr nichts mehr zu bieten hatte, ging sie mit ihm, heiratete ihn, wurde unendlich glücklich in der Geborgenheit und der Sicherheit, die er ihr gab.
An einem Freitagabend – ihre achtjährigen Zwillinge schliefen bereits in ihren Bettchen – bat Howard sie um Hilfe, und darum hatte sie noch nie ein Mensch gebeten, weder ihr Vater noch ihr Bruder und bis zu diesem Moment auch Howard nicht. Er ging mit ihr in sein Arbeitszimmer und schloss die Tür hinter ihnen, offensichtlich besorgt, dass man ihn bespitzelte. Die Bücher und Dokumente auf dem Regal waren in Abschnitte unterteilt, nach den Orten, die Howard auf seinen Segelexkursionen bereist hatte: von seiner Zeit in jungen Jahren auf dem Boot seines Vaters über den Krieg bis hin zu den jüngsten Fahrten auf seinem eigenen Boot, und
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