Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
moralischen Überzeugungen geleitet. Und nun, da Vater tot ist, könnte es obendrein lustig werden, da dich sicher alle beeindrucken wollen.«
Nach kurzem Schweigen fragte Rika: »Bist du traurig? Darüber, dass er tot ist, meine ich.«
Langsam legte Eir ihr die Arme um die Schultern, und Rika genoss die herzliche Vertrautheit. Ihrer Schwester wieder nah sein zu können, rührte sie. Sie hielten einander einen Moment lang. Eir flüsterte: »Mich verwirrt nur meine Erleichterung über seinen Tod. Und die Tatsache, dass ich nun vermutlich erwachsen werden und Verantwortung übernehmen muss.«
Zu Rikas Überraschung drehten sich Hunderte von Menschen zu ihr um, als sie auf der Treppe erschien, die vom Altan herabführte. Auch der Lärm war beunruhigend – die Beisetzung des einzigen Menschen in der Stadt, den alle gekannt hatten, würde nicht still vor sich gehen.
Bis auf die Soldaten waren alle – auch ihre Schwester – in leuchtende Farben gekleidet. Sie folgten Villjamurs seltsamer Sitte, sich bei Beerdigungen bunt anzuziehen. Es würde keine morbiden Gedanken geben, im Gegenteil: Der Tag des Begräbnisses wäre farbenfroher als alle anderen.
Unten an der Treppe wartete eine Totenbahre auf Rädern, auf der ein Holzsarg stand.
Mit ihrem Vater darin.
Obwohl sie wusste, dass es anders hätte sein sollen, empfand sie kaum noch etwas für ihn. Aber warum? Hatte sie sich so lange von den elementaren menschlichen Empfindungen entfremdet, dass sie nun nicht mehr wusste, was sie denken sollte, oder war sie erleichtert darüber, dass der Mann, der so grausam zu ihrer Mutter gewesen war und niemanden als sich selbst geliebt hatte, gestorben war?
Die Nachtgarde (oder was von ihr übrig war, elf Soldaten) war gleich hinter dem Sarg aufgereiht. Kommandeur Lathraea stand in Habtachtstellung vor seinen Männern und wirkte in seiner schwarzen Uniform, von der das weiße Gesicht wie ein geisterhaftes Leuchtfeuer abstach, wie eine Erscheinung.
Hinter ihm drückten sich Ratsmitglieder herum und dahinter wiederum verschiedene Adlige in hellen Roben. Auch einfache Stadtbewohner hatten Zugang zu dieser bevorzugten Ebene erhalten und drängten sich in allen anschließenden Straßen mit guter Sicht. Überall in der Stadt standen Leute auf Balkonen und Mauern oder beugten sich aus den Fenstern der zahllosen Türme. Viele winkten ihr zu, und über der ganzen Stadt lag eine gewisse Aufregung. Am Abend würde es wie stets Erzählungen geben, die sich bis zum Aufgang der Roten Sonne um Kaiser Johynns Leben drehten. Es würde Wein, Bier und Tanz geben. Und ein paar Spaziergänge am späten Abend, bei denen die Leute ihr sagen würden, wie entzückend sie aussehe oder wie traurig es für sie sein müsse, die Nachfolge ihres Vaters anzutreten.
Rika schritt die Stufen hinunter und gesellte sich zu ihrer Schwester, die am Sarg des Vaters stand. Gern hätte sie den Deckel gehoben, um sein Gesicht ein letztes Mal zu sehen und festzustellen, ob ihr Zorn auf ihn neu aufflammen würde oder ob sie plötzlich Liebe für ihn empfände, die freilich nur auf kalte Stille prallen würde.
Kommandeur Lathraea trat mit einem Nicken und einigen geflüsterten Anweisungen vor.
Der Zug führte zu Fuß durch die gewundenen Straßen der Stadt. Nur Rika ritt, damit alle die neue Herrscherin sahen. Dass ihr Pferd den Verstorbenen zog, hatte etwas seltsam Symbolisches. Trotz des bitterkalten Wetters jubelte die Menge. Alte Frauen warfen Tundrablumen auf den Wagen. Fast zwei Stunden bewegten sie sich so durch die Stadt, und eine traurige Spur durchweichter Blüten zeigte, auf welchen Straßen sie sich der Krypta genähert hatten.
Jeder, der im Kaiserreich etwas galt, zeigte sich in der dunklen Krypta. Alle Kaiser des Hauses Jamur waren dort beigesetzt – eine viertausendjährige Verwandtschaftslinie, die mit Jamur Joll begann, der sein Volk nach einer legendären Schlacht in die alte Stadt Vilhallan (wie sie damals hieß) geführt, sich dort zum Kaiser erklärt und den Bau der drei Umfassungsmauern befohlen hatte. Johynn würde neben seinem Vater, Kaiser Gulion, beigesetzt werden, der sechsundzwanzig Jahre zuvor ertrunken war – ein Unfall, der für viele Gerüchte gesorgt hatte. Rika sah dem Ganzen mit der befremdenden Erkenntnis zu, dass auch sie eines Tages hier bestattet werden würde – zwischen Hunderten Kerzen in einem ewigen Gefängnis aus Stein.
»Krieg?«, stieß Rika hervor, lehnte sich zurück und blickte ins Unbestimmte. Das Wort geisterte
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