Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
durch ihren Kopf und weckte Schuld- und Schamgefühle. Krieg bedeutete Tod, und sie würde ihn mit heraufbeschwören. Dabei schien es nicht einmal ihre Entscheidung zu sein: Das Kaiserreich würde das Nötige tun, ohne dass sie dabei mitzureden hatte.
Zwei Laternen erhellten das Zimmer, dazu eine Kerze auf dem Tisch und ein Kaminfeuer. Jagdtrophäen hingen an den Wänden, in deren Holzvertäfelung uralte Runen geschnitzt waren. Die Geschichte war hier lastend gegenwärtig.
»Er ist unumgänglich, das versichere ich Euch«, sagte Kanzler Urtica, wies auf die vor ihnen ausgebreiteten Karten und beleuchtete mit der Kerze die Kaiserlichen Inseln im östlichen Boreal-Archipel. »Unsere Armeen haben sich hier auf Folke gesammelt, nahe der Garnisonsstadt Ule. Das ist unsere größte Festung in dieser Region. Ich gestehe, anfangs die gleichen Bedenken gegen einen Krieg gehabt zu haben, die Euch offenkundig umtreiben. Doch wir haben Grund zu der Annahme, dass diese Stämme unsere Gebiete angreifen werden.« Urtica klammerte sich an die Tischkante. »Ich habe alles mir Mögliche unternommen, um unsere Länder zu verteidigen, Kaiserin. Was das anlangt, braucht Ihr Euch keine Sorgen zu machen.« Er trat beiseite und wärmte sich am Kamin.
Rika stand auf, um einen besseren Blick auf die Karten zu werfen. Sieben Nationen und Dutzende felsige Inseln waren zu sehen, die ihr einst nichts bedeutet hatten und die auch jetzt nur eine abstrakte Versammlung von Linien und Farben waren. »Kanzler, was hat das alles zu bedeuten?«
»Dass wir für eine gewisse Zeit Tausende Soldaten in den Osten schicken, Mylady, von denen die ersten bereits unterwegs sind – sei es zu Fuß oder per Schiff. Es ist unerlässlich, um unsere Bevölkerung zu schützen.«
Es schien ihr recht seltsam, Menschen zu verteidigen, indem man eine andere Insel angriff. »Können wir uns ein solches Unternehmen denn leisten?«
»Das bereitet uns keine Probleme. Wir Ratsmitglieder haben dafür gesorgt, dass regelmäßig Steuern nach Villjamur geflossen sind. Teuer ist hauptsächlich der Einsatz von Kultisten, doch uns bleibt kaum etwas anderes übrig, als von Zeit zu Zeit auf sie zurückzugreifen. Ich habe dafür Sorge getragen, dass die Staatseinnahmen durch Kürzung der Veteranenbezüge und durch erhöhte Besteuerung der oberen Soldstufen unserer aktiven Soldaten weiter steigen.« Er wandte sich mit ernster Miene zu ihr um. »Das ist unerlässlich, wenn dieses Reich sich verteidigen soll.«
»Nun … falls Ihr das für zwingend notwendig haltet. Und die Nachtgardisten?« Rika dachte daran, wie nützlich Brynd gewesen war. »Werden auch sie in diesen Krieg ziehen?«
»Sie werden … « – Urtica zögerte – »… gebraucht, um andere Entwicklungen zu bekämpfen, Kaiserin.«
Er berichtete ihr von den Vorfällen auf Tineag’l; ein Massenmord, der eine Flüchtlingskrise ungekannten Ausmaßes heraufbeschwören konnte.
Sie nickte nur, um keine weiteren Wissenslücken zu offenbaren, und hatte den Eindruck, dass sie als einzige Frau in einer männerdominierten Umgebung eine ungemein bedeutende Rolle hatte. Egal, wie vorurteilsfrei eine Kultur war: Krieg weckte in Männern immer überaus primitive Impulse und das Bedürfnis, Stärke zu demonstrieren.
»Mylady, mir ist klar, dass diese Nachrichten schwer zu verdauen sind«, sagte der Kanzler und lächelte wissend.
Vielleicht hatte er nicht herablassend klingen wollen, doch genau das tat er. Und er hatte recht: Es gab wirklich ungemein viel zu verdauen. »Also überlasse ich Euch diese Angelegenheit, Kanzler. Doch ich wäre sehr dankbar, wenn Ihr mich über jede militärische Operation auf dem Laufenden hieltet.«
Er nickte sanft. »Zu Befehl, Kaiserin.«
»Nun zu etwas anderem: Ich würde es sehr begrüßen, wenn die Flüchtlinge vor der Stadt Nahrung bekämen.«
»Verzeihung, Mylady?«, gab Urtica zurück, und sein Blick wirkte überrascht. Oder amüsiert.
»Ich möchte, dass sie möglichst gut verpflegt werden. Auch wenn es nur eine einmalige Gabe sein sollte. Betrachtet es als Willkommensgeschenk ihrer neuen Kaiserin. Obwohl sie sich außerhalb der Stadttore aufhalten und kein Obdach haben, sind wir schließlich für sie verantwortlich.«
Urtica verzog keine Miene, und doch schimmerte etwas in seinem Gesicht auf, das sie nicht interpretieren konnte. »Das ist ein großartiger Vorschlag, Kaiserin. Ich lasse eine entsprechende Anweisung für den Rat aufsetzen, doch das kann einige Zeit dauern. Offensichtlich
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