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Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
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Gedanken an ihre Schwester abgesehen). Dass diese Tage nie zurückkehren würden, ließ sie nur umso begehrenswerter erscheinen. Sie musste sich in dieser fremden Stadt eine Priesterin suchen, um sich aus Astrids Perspektive durch diese schwierige Zeit leiten zu lassen.
    Sie konnte nicht von ihrer Vergangenheit lassen. Wie lange hatte sie sie zu meiden versucht! Vielleicht war sie sogar aus der Stadt geflohen, um nicht mehr daran denken zu müssen. Doch die Bilder ihres früheren Lebens waren ihr überallhin gefolgt:
    Sonnenstrahlen, die den Steinboden hell wirken lassen. Eir, die in der Küche mit Mehl überschüttet wird und nun weint. Pockennarbige Lehrer, die Grammatikunterricht geben, während es draußen regnet. Der erste Garuda ihres Lebens. Der Tag, an dem die Wandteppiche im Speisesaal Feuer fangen. Zwei Diener, die sich an der Wand eines Studierzimmers leidenschaftlich küssen. Auf dem Balkon, in der nachlassenden Herbstwärme einen Apfel essen. Eine Stadtkatze, die ihr mit seltsam rauer Zunge die Fußsohle leckt.
    Rika und Eir hatten seit früher Kindheit zusammen im Balmacara gespielt. Es gab so viele Korridore zu erforschen, so viele Räume, die nur für Entdeckungsreisen interessant waren, so viele große Fenster, von denen sich eine herrliche Aussicht auf Villjamurs gewaltige Brücken und Türme bot. Die beiden waren neugierige junge Mädchen gewesen, die noch das ganze Leben vor sich hatten. Zeit war damals kein Begriff gewesen, der ihnen Sorge bereitete.
    Viele Stadtwächter waren zu ihrem Schutz abgestellt, und es demütigte die Soldaten, wie Kindergärtner auf die Mädchen aufzupassen. Rika hatte sich oft gefragt, was diese riesigen, muskulösen Männer mit dem Schwert an der Hüfte über die beiden kleinen Mädchen in ihren lächerlich teuren Kleidern gedacht haben mussten. Die militärische Ausbildung hatte sie auf ihre neue Aufgabe nicht gerade vorbereitet. Rika entsann sich noch der Blicke, wenn wieder zwei neue Wächter gebeten wurden, die Kaisertöchter beim Spielen zu beaufsichtigen. Die Männer pflegten sich nur kurz anzusehen, die Schultern zu zucken und einfach stehen zu bleiben. Am Abend allerdings rutschten sie unweigerlich auf allen vieren herum, während Eir und Rika auf ihnen ritten und mit Holzschwertern fuchtelten, was ihre Mutter in lautes Lachen ausbrechen ließ, wenn sie ins Zimmer trat. Später zogen die Wächter sich dann mit schamrotem Kopf zurück.
    Rika lachte auf. Bestimmt haben sie das sehr genossen.
    Immer wieder hatten Eir und Rika versucht, die Männer abzuschütteln und durch ihr Verschwinden Panik auszulösen. Einmal war es Eir gelungen, sich einen Nachmittag lang in der Bibliothek auf einem Bücherschrank zu verbergen, während Soldaten alle Flure abgingen und jedes Zimmer durchsuchten und ihre Mutter zwischen Ärger und Sorge schwankte. Nur ihre Schwester hatte gewusst, wo sie sich versteckte, und war stündlich mit Süßigkeiten vorbeigekommen.
    »Kommst du jetzt runter?«, hatte sie wissen wollen.
    »Wie lange bin ich denn schon hier oben?«, hatte Eir gefragt und mit dem Arm eine Staubwolke vom Bücherschrank gefegt.
    »Du solltest runterklettern, ehe du am Ohrläppchen gezerrt wirst.«
    »Hör auf mich zu drängen, oder ich komm gar nicht mehr und sage, du hast mich raufgenötigt und gezwungen, hier oben zu bleiben, obwohl ich die ganze Zeit bitter geweint habe.«
    »Das würdest du nicht tun«, hatte Rika entgegnet.
    »Und ob! Also, wie lange bin ich schon hier oben?«
    »Vier Stunden.«
    »Dann bleib ich mindestens noch zwei. Das ist ein gutes Buch. Genau wie die Süßigkeiten. Außerdem mag ich den Wirbel, der um mich gemacht wird. Das ist mal was anderes.«
    Als jüngere der beiden Schwestern hatte Eir stets dazu geneigt, sich Anweisungen zu widersetzen und die Regeln zu brechen, die für Rika verbindlich gewesen waren. Und sie hatte ja recht damit, da die Mädchen oft übersehen wurden. Schließlich waren sie Kinder, und darum begegnete man ihnen nicht allzu streng. Ihr Vater war ganz mit kaiserlichen Pflichten beschäftigt. Oft hatte der harte Mann Frau und Töchter ohne jeden Grund angeschrien. Dann waren da die Prügel, die sie bekommen hatten – Erinnerungen, die sie zu unterdrücken suchte. Ihrer Mutter war die Vernachlässigung im Gesicht anzusehen: an den verblühten Zügen, wenn sie mit ihm sprach; an den gelegentlichen Tränenausbrüchen, wenn sie dasaß und aus dem Fenster starrte. Einst war sie wunderschön gewesen, hatte glänzendes schwarzes

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