Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Haar und ein schönes, ovales Gesicht gehabt und groß und königlich gewirkt. Und sie hatte stets theatralische Gewänder getragen. Die Mädchen halfen ihr oft dabei, Kleidung, Make-up, Schmuck und Parfüm auszuwählen. Sie war jeder Zoll die Gattin des Kaisers gewesen. Für Rika waren Frauen etwas anderes als nur Schmuckstücke, die von einem Mann unterdrückt wurden und in einer Falle namens Familie saßen. Damals hatte Rika oft geblendet auf ihrem Bett gesessen und war glücklich gewesen, wenn ihre Mutter ihr lächelnd einige ihrer Schmuckstücke umgelegt hatte. Sie wusste noch, dass ihr Atem nach Minzblättern geduftet hatte …
Es klopfte.
Sie erwog kurz, nicht zu reagieren. Wenn sie mit ihren Erinnerungen hier am Fenster sitzen bliebe, begänne dieser Tag womöglich nicht. Stünde sie aber auf, würden die Ereignisse unaufhaltsam in Bewegung gesetzt und damit enden, dass sie zur Herrscherin des Kaiserreichs Jamur erklärt wurde. Stattdessen könnte sie einfach sitzen bleiben, auf die Stadt sehen und sich vom Schneetreiben hypnotisieren lassen.
Kein Wunder, dass ihr Vater schließlich wahnsinnig geworden war.
»Rika, bist du wach? Ich bin’s, Eir.«
»Einen Augenblick.« Rika stand auf, um ihre Schwester einzulassen. Sie war froh, dass kein Fremder geklopft hatte.
Eir schritt in die Mitte des Gemachs und zog eine berauschende Parfümwolke hinter sich her. Sie trug ein ungemein modisches rotes Kleid mit Stehkragen und schwarzen Ärmeln. Das Haar lag ihr eingeölt am Kopf, und ihr Gesicht war geschminkt, wie Rika es nie gesehen hatte. An die Brust hatte sie sich eine rote Tundrarose aus Papier gesteckt.
»Du bist ja nicht mal angezogen«, stellte Eir fest.
»Stimmt«, seufzte Rika. »Ich hab ins Schneetreiben geschaut und nachgedacht.«
»Dafür wirst du noch genug Zeit haben«, erwiderte ihre Schwester. »Vor uns liegen Jahrzehnte, in denen wir nach Kräften schneeblind werden können, heißt es. Die Nachtgarde und der Rat versammeln sich schon, genau wie die führenden Familien.«
»Es ist noch etwas Zeit, ehe ich da auftauchen muss«, sagte Rika. »Ich weiß nicht recht, wie ich klarkommen soll – bei all dem Wirbel, der um mich gemacht wird. Wie kriegt man etwas erledigt, wenn einen ständig so viele Leute stören?«
»Das weiß ich nicht«, bekannte Eir und machte es sich auf dem Fensterbrett gemütlich. »Eigentlich ist es doch ganz nett, wenn unseretwegen von Zeit zu Zeit solcher Aufwand getrieben wird.«
Rika lächelte. »Du bist ja ein verdorbenes kleines Gör geworden.«
»Hör auf … du klingst schon wie Randur.«
»Wer ist das denn?«, wollte Rika wissen.
»Niemand.« Eir rang nervös die Hände.
»Ach nein?« Rika trat einen Schritt an sie heran. »Das wird doch nicht der junge Angeber sein, der über die Flure stolziert und wie wild mit allen Frauen flirtet, denen er begegnet, oder? Der ist mir allerdings aufgefallen. Erzähl mir nicht, dass auch du auf seinen Charme hereinfällst.«
Eir lachte. »Du bist doch gerade erst angelangt – wie kommst du da nur auf solche Ideen? Nein, ich ertrage es kaum, mit ihm tanzen zu müssen.«
»Dann kommst du ihm also ziemlich nahe, was? Und zwar häufig?« Rika verschränkte die Arme.
»Er ist bloß mein Lehrer.«
»Ist er wenigstens gut?«
» Er jedenfalls scheint das anzunehmen.«
»Er ist zweifellos ein hübscher Mann«, räumte Rika ein, um ihrer Schwester Gelegenheit zu geben, über ihre so offenkundige Verliebtheit zu sprechen.
»Lass ihn das nicht hören – sonst hast auch du ihn am Hals. Aber ich will nicht über ihn reden.« Eir stand auf. »Also, wann beehrst du uns mit deiner Anwesenheit?«
»In ein paar Minuten. Ich komme gleich runter.«
Eir küsste ihre Schwester auf die Wange und wandte sich zum Gehen.
»Einen Moment noch«, sagte Rika.
Viele Jahre waren vergangen, und plötzlich fiel ihr auf, dass ihre kleine Schwester zu einer attraktiven jungen Frau geworden war. Rika ging zu ihr und ergriff ihre Hände. Es fiel ihr leicht, offen zu ihr zu sein. »Eir, ich fürchte bisweilen, dass ich niemals eine Kaiserin zu sein vermag. Ich bin nicht stark genug dafür. Ich habe einfach nicht die Erfahrung –«
»Rika, du bist die tapferste und klügste Frau, die ich kenne. Du hast Villjamur verlassen, um auf einer abgelegenen Insel zu leben, auf der nur einige Bauernhöfe und Jorsalir-Tempel stehen – schon dafür braucht man einen ausgeprägten Willen. Du hast dich intensiv mit Religion beschäftigt, wirst also von
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