Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
habt Ihr das Mitgefühl Eurer Mutter geerbt.«
»Wirklich?« Rikas Nachfrage klang schwermütig.
»Aber ja. Es ist ein Jammer, dass sie unter so … verdächtigen Umständen gestorben ist.«
»An den Umständen war nichts verdächtig«, gab Rika zurück, ohne erst über ihre Antwort nachgedacht zu haben.
»Glaubt Ihr also zu wissen«, fragte Urtica, »wer der Mörder war?«
Einmal mehr kehrten die Geister zurück.
Als Kind hatte Rika ihrem Vater, als der nach ihrer Mutter suchte, gesagt, sie sei mit einem Wächter in ihrem Privatgarten. Eine ganz unschuldige Bemerkung. Sie hatte nicht gedacht, dass er in ihrem Umgang mit dem anderen Mann etwas Böses sehen könnte.
»Viele behaupteten, meine Mutter habe eine Affäre mit einem Dragoner gehabt, und mein Vater habe das entdeckt. Bald darauf wurde ihre Leiche ziemlich weit unten in der Stadt auf offener Straße gefunden. Sie sei bei einer amtlichen Besorgung auf tragische Weise verblutet, hat mein Vater uns erzählt – was immer das bedeuten mag.«
Urtica schnappte kurz nach Luft. »Ihr glaubt doch wohl nicht, dass Euer Vater für ihren Tod verantwortlich war?«
Rika schwieg. Doch, das glaubte sie, aber sie würde es den Kanzler nicht wissen lassen.
Urtica drängte weiter. »Auf die Festnahme des Mörders wurde eine Belohnung ausgesetzt, nicht wahr? Verzeiht, aber das ist schon ziemlich lange her. Ich bin mir sicher, dass der Fall gründlich untersucht wurde.«
»Die Inquisition hat jede Menge Akten produziert – das war alles.«
»Das muss für alle eine schwierige Zeit gewesen sein.«
»Vermutlich begann Vater in jenem Jahr, den Menschen zu misstrauen und sich zurückzuziehen. Ich weiß noch, dass die Diener ihm eine Flasche Wein nach der anderen brachten. Im Laufe der Zeit wurde ihm die Qualität des Alkohols gleich – Hauptsache, es gab Nachschub. Damals hat seine Zerrüttung wahrscheinlich angefangen.«
»Gut möglich«, pflichtete Urtica ihr bei. »Die Psyche leidet sehr unter den Belastungen eines so hohen Amtes. Doch ich hoffe, dass Ihr den Bewohnern Villjamurs etwas mehr traut.« Er lächelte. »Heutzutage liegt alles ganz anders.«
Eine Viertelstunde später forderte der Kanzler einen Garuda an und notierte, während er auf ihn wartete, eine Liste von Befehlen. Schließlich trat einer der Vogelsoldaten ein. Urtica musterte ihn und staunte darüber, dass sein Gesicht trotz des trüben Lichts weiß leuchtete.
Ihr habt einen von uns angefordert? , gab ihm der Flugleutnant gestisch zu verstehen.
Urtica versuchte, sich auf die richtigen Worte und darauf zu besinnen, was die Handbewegungen bedeuteten, denn er war es nicht gewohnt, sie persönlich zu dechiffrieren. Schließlich war er kein bloßer Soldat. »Ja, bringt diesen Befehl zur Garnison Ule auf Folke!« Der Kanzler gab dem Garuda ein Schreiben. »Zeigt ihn dort jedem Hauptmann, dem Ihr begegnet! Und sollte mein Brief auf der Reise zerstört werden, prägt Euch diese Worte ein: ›Auf Befehl der Kaiserin Jamur Rika und des Rats von Villjamur habt Ihr an der Nord- und Ostküste zu Varltung eine Front einzurichten. Insgesamt zweitausend Soldaten sind an strategisch wichtigen Orten zu postieren, um dort Langschiffe zu erwarten, die von allen Militärhäfen Jokulls lossegeln werden. Ziel des Kriegszugs ist die totale Unterwerfung Varltungs, wobei möglichst keine Gefangenen zu machen sind.‹«
Der Garuda stieß ein schrilles Krächzen aus. Sir, verstehe ich richtig? Ihr wollt, dass alle getötet werden?
»Nehmt Ihr Euch etwa heraus, meine Befehle in Zweifel zu ziehen?« Urtica sah klare Enttäuschung im Gesicht des Vogelmenschen. »Ihr seid für Militäreinsätze gezüchtet – lasst Euch also nicht von Gefühlen lenken. Außerdem können wir es uns in diesen Zeiten nicht leisten, uns um Gefangene zu kümmern.«
Einverstanden , signalisierte der Garuda und nahm die Schriftrolle in seine Menschenhände.
Urtica betrachtete die winzigen Federn auf den Armen des Geschöpfs und blickte ihm dann in die Augen. »Habt Ihr Euch meine Befehle eingeprägt?«
Sie sind nicht leicht zu vergessen, Sir , bedeutete der Garuda dem Kanzler.
»Gut.« Urtica setzte sich wieder an seine Karten und warf dem Garuda einen beiläufigen Blick zu. »Weitere Anweisungen folgen, doch die Schriftrolle, die Ihr in Händen haltet, enthält Details über die Verteilung und Bewegung der Truppen, und nichts davon steht zur Diskussion. Jeder Hauptmann wird das einsehen und entsprechend handeln. Jetzt geht!« Er
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