Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)

Titel: Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mark Charan Newton
Vom Netzwerk:
untersuchen.«
    »Gut«, sagte Tryst. »Dann beginne ich nachher mit der Beschattung.«
    Den ganzen Nachmittag über studierte Jeryd seine Notizen, um herauszufinden, wie alles zusammenhing. Vielleicht hatte er sich zu sehr verwöhnt, als er sich in sein Lieblingsbistro gesetzt und eine süße Pastete und heißen Wacholdertee bestellt hatte. Was er tat, war zu heikel, als dass er sich damit in den Büros der Inquisition hätte beschäftigen mögen.
    Allmählich beschlich ihn wirklich Verfolgungsangst.
    Was hatte das alles zu bedeuten? Warum sollte einer aus dem geschätzten Rat den Tod so vieler Menschen planen? Waren Ghuda und Boll deshalb getötet worden? Hatte jemand herausgefunden, was sie im Schilde führten? Und vor allem: Von wem stammte die chiffrierte Nachricht? Wenigstens würde Tryst die Hure beschatten. Hoffentlich fand der junge Mann etwas Verwendbares heraus.
    Im Bistro war es recht ruhig. In der anderen Ecke des gefliesten Lokals saß ein altes Paar; beide trugen die gleiche elegante braune Tunika, wie man sie in der Foulta Gata nach klassischer Villjamur-Mode geschneidert hatte, als Baumwolle der gefragteste Stoff gewesen war. Sie saßen da, tranken Tee, lasen jeder ein Buch und fühlten sich in der stillen Gegenwart ihres Partners vollkommen wohl; jedes Mal, wenn der Mann ein Kapitel beendet hatte, sah er auf und lächelte seine Frau an. Vor Wochen hätte Jeryd diesen Anblick schlicht als deprimierend empfunden, doch nun wärmte ihm diese gegenseitige Zuneigung das Herz.
    Zu dieser Tageszeit legte die Stadt eine Pause ein. Das hastige morgendliche Gedränge war vorbei, und in den Bistros saß fast nur, wer allein trinken und in Ruhe grübeln wollte. Sogar das Serviermädchen sah ein wenig abwesend drein und schien entweder nach Hause gehen oder sich vor dem nächsten Ansturm entspannen zu wollen.
    Jeryd überlegte, wie er den Rat auskundschaften und ermitteln sollte, wer welche Absichten verfolgte. Er würde allen Mitgliedern eine persönliche Warnung zukommen lassen, ihr Leben sei in Gefahr, wenn sie nicht offen mit ihm sprächen. Er faltete seine Notizen zusammen, warf ein paar Münzen auf den Tisch, wandte sich zum Gehen und beobachtete dabei, wie der alte Mann die Hand seiner geliebten Partnerin an die Lippen führte.
    Was für eine tolle Stadt ! dachte er, allen Daseins-Extremen zum Trotz. Heldendichtung und Alltag sind hier bloß zwei Facetten des Lebens.
    Und alle Facetten zusammen bilden Villjamur.

KAPITEL 28
    Es war Nacht; keine Stadtbrücke war zu sehen und erst recht keiner der Türme, zu denen sie führten, denn vom Meer war zäher Nebel herangezogen. Gehilfe Tryst ging vorsichtig die verschneiten Pflasterstraßen entlang; die eine Hand hatte er in seine Robe geschoben, in der anderen hielt er einen Aronkraut-Glimmstängel, und seine Füße kribbelten vor Kälte. Seit Tagen schneite es abends unermüdlich. Wo die Straßen mit Meerwasser gereinigt worden waren, musste man sich besonders vorsehen. Täglich hörte man von Arm- und Beinbrüchen. Trotz der Gefahr zogen Kinder durch die Straßen, um mit anderen eine Schneeballschlacht anzuzetteln.
    In regelmäßigen Abständen warfen Lampen ihr schwaches Licht und bewahrten Tryst davor, sich völlig zu verlaufen.
    Dieses Wetter macht es wirklich elend schwer, jemanden zu beschatten , dachte er bekümmert.
    Leute waren kaum unterwegs, doch in der Ferne hörte er eine Banshee. Ihr Klagen schien von unten heraufzudringen, vielleicht aus einem der vielen unterirdischen Gänge oder verfallenen Gebäude – jedenfalls hoffte er, dass es nicht aus der Nähe kam. Er hätte schwören können, das Ziehen eines Schwerts gehört zu haben, und fluchte darüber, so spät noch unterwegs sein zu müssen. Dann nahm er einen letzten Zug vom Aronkraut und warf es in den Schneematsch.
    Es genügt Jeryd also nicht, mich als Hilfsarbeiter der Inquisition versauern zu lassen – er schickt mich auch noch in diese Hundekälte, damit ich eine Hure beobachte.
    Wenigstens wusste er nun mehr über die Schwachstellen seines Vorgesetzten. Tryst war fasziniert von einem Satz, den Kanzler Urtica bei einem Ovinistentreffen hatte fallen lassen: Ein Mann könne noch so standhaft erscheinen, doch gewöhnlich sei das Gefühl seine Schwachstelle, ja, er lasse sich in der Regel sogar von seinem Herzen zu Fall bringen. Viele große Männer waren durch die Liebe zerstört worden. Bei diesen Worten hatte Tryst entschieden, Urtica für einen der klügsten Männer zu halten, die je

Weitere Kostenlose Bücher