Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
gelebt hatten.
Um seinen Chef zu erschüttern, könnte Tryst Marysa einfach umbringen. Doch das erschien ihm zu brutal, und außerdem wünschte er dem Rumel auch nichts so Schreckliches. Zwischen ihnen bestand durchaus eine gewisse Achtung: Ihr Verhältnis war schwierig und gegensätzlich, durfte aber nicht völlig zerstört werden. Hier, wo beider Leben sich verwoben, gab es kein Schwarz und Weiß, und oft scherzten sie zusammen oder besprachen den einen oder anderen Fall, an dem sie arbeiteten. Es ging gar nicht darum, Jeryd furchtbar zu verletzen, sondern ihm eine Lektion zu erteilen, ihm eine geistige Klatsche zu verpassen. Nein, er wollte Jeryd nicht zerstören, sondern verwirren , und danach sollte er weiter in der Lage sein, den Mord an den Ratsmitgliedern aufzuklären. Das war Urtica wichtig und darum auch ihm.
Tryst trat auf einen Platz zwischen Cartanu Gata und Gata Sentimental, in dessen Nähe die Hure wohnte. Gelächter drang aus einem Hauseingang, und Gläserklirren und über Steine rutschende Schuhe waren zu hören. Von seinem Standort war eine wahre Sinfonie dezenter Geräusche der Nacht zu vernehmen, die anscheinend von überall her kamen. Er vernahm ein Husten hinter seinem Rücken, doch da war niemand, nur ein langer Schatten, der übers Pflaster huschte. Da die Häuser hier hoch und eng verschachtelt standen, herrschte Windstille, und der Duft von Räucherstäbchen und gebratenem Essen drang ihm einladend in die Nase. Durch den Nebel vor ihm leuchtete ein Bistro. Ihm fiel ein, dass die Hure gesagt hatte, sie halte sich viel in solchen Lokalen auf. Vielleicht ja auch jetzt? Er konnte die Suche nach ihr genauso gut dort beginnen. Tryst ging auf das Licht zu und hörte den sanften Rhythmus von Laute und Trommel.
Das Bistro war voll, und die mehrheitlich Kapuzen tragenden Gäste schienen unter sich bleiben zu wollen. Tryst hatte den Eindruck, durchaus in die Szenerie zu passen. Er setzte sich in die der Bühne gegenüberliegende Ecke der lang gezogenen Gaststube. Kellnerinnen flitzten im Licht von Kerzen und einigen Fackeln, die die Bühne beleuchteten, durch den dichten Rauch zwischen Theke und Tischen hin und her.
Auf der Bühne ließ ein Kultist mehrere Golems zur Musik eines Trommlers und eines Lautenspielers tanzen. Er umklammerte ein Relikt und befahl den Statuen nacheinander, zur Bühnenmitte zu gehen, wo sie sich beschwingt um sich selber drehten, während die Zuschauer nach Luft schnappten und zwischen purpurnen Blitzen Beifall klatschten. Um seine Nummer zu beenden, ließ er eine Statue die Flügel ausbreiten und einen Kreis über die Köpfe der Menge fliegen, bevor sie sich wieder in Stein verwandelte.
Ein Mädchen kam zu Tryst, um seine Bestellung – Rum »Schwarzes Herz« und Leberpastete vom Hai mit Vollkornbrot – aufzunehmen. Als sie mit der Flasche zurückkehrte, bat er, sie dazulassen. Wenn er schon in einer Eiszeit eine Hure beschatten sollte, brauchte er dabei nicht auch noch zu frieren.
Als Nächste betrat eine dicke Frau die Bühne und las schlechte Gedichte über die sterbende Erde vor, wobei sie entsetzlich leierte, was allerdings keinen zu stören schien. Danach war der Lautenspieler wieder dran, blieb eine Weile auf der Bühne und beschäftigte sich mit Mollakkorden und entspannenden Septimen.
Tryst beobachtete, wer ins Bistro kam oder es verließ, und stellte fest, dass der Großteil der Gäste Männer waren. Fast alle Frauen arbeiteten als Bedienung, und sie taten Tryst der Blicke wegen leid, die sie auf sich zogen. Einige Männer waren alt genug, um ihre Großväter zu sein, griffen aber mit schwachen Händen nach allem erreichbaren Fleisch, als wären diese jugendlichen Leiber das Letzte, was sie berühren würden. In der ganzen Stadt schienen nun solche Verzweiflungstaten zutage zu treten.
Seine Gedanken glitten unweigerlich von den Geschäften der Inquisition zu seiner Bindung an die Ovinisten und zumal an Kanzler Urtica. Sein Mentor war ein inspirierender Mensch: bezaubernd, intelligent und stets selbstlos für Villjamur im Einsatz. Es war schwer, nicht mit allem, womit er in Verbindung stand, zu tun haben zu wollen. Gleich vielen jungen Männern brannte Tryst darauf, Erfolg zu haben und etwas zuwege zu bringen. Das Leben lag vor ihm wie ein frisch gepflügtes Feld, das nur darauf wartete, dass er seine Fähigkeiten einsetzte, und Kanzler Urtica konnte ihm bei der Ernte helfen.
Als der Lautenist sein Spiel für einen Schluck Bier unterbrach, ließen Gemurmel
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