Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
ruhte noch einige Zeit auf der Leiche in der Wanne. Der Tod war ein so fremdes Phänomen, weil alle ängstlich die Augen vor ihm verschlossen, obwohl er jedem unabänderlich bevorstand. Doch die Art, wie diese Frau gestorben war, hatte nichts Unausweichliches: Niedergemetzelt hatte man sie, als sie an einem kalten Tag entspannt in der heißen Wanne lag.
Dass das Leben stets zu kurz war, verstand Dartun besser als die meisten.
»Kommt«, sagte er schließlich und führte sie von der beunruhigenden Szenerie fort. »Jetzt finden wir die Welten-Tore, erforschen meine Theorien und kehren erst zurück, wenn wir das erfolgreich abgeschlossen haben.«
Er blieb auf der verschmutzten Türschwelle stehen, sah seinen Atem aufwölken und spürte, wie der Schrecken, der diese trostlose Stadt erfüllte, ihm mit jedem Luftholen mehr in die Knochen und ins Blut überging.
Zu Pferde verließen sie die tote Stadt und wandten sich dorthin, wo sie sich mit weiteren Mitgliedern des Ordens der Tagundnachtgleiche treffen wollten. Da sie früh dran waren, mussten sie zwei Tage in bitterer Kälte auf die anderen warten. Rotes Sonnenlicht arbeitete sich mühsam durch die Wolken, die den nördlichen Himmel verdunkelten. Alles ringsum wirkte gewaltiger, vermutlich aber fühlten sie sich als Menschen in dieser leeren Umgebung einfach kleiner als anderswo. Hier draußen war es weit rauer als in der Stadt. Die Natur gab den Ton an. Hügelrücken stiegen steil empor, und ständig standen ihnen schräge Schneeflächen vor Augen. Es war demütigend. Die verschneite Tundra erstreckte sich nahezu endlos in jede Richtung, und nur da und dort setzten Lärchen- oder Birkenwäldchen Akzente. Mitunter strich im ersten oder letzten Sonnenlicht ein Wolf vorbei, und sein langer Schatten fiel auf den Schnee, während die Schreie der Seeschwalben, Möwen, Falken und Tölpel am Himmel einen unheimlichen Chor ergaben, der die durchdringende Einsamkeit nur steigerte.
Dartun freilich war über diese Isolation froh.
Fast hätten sie die Übersicht verloren, wie viele Tage verstrichen waren, da sichtete Verain drei Langschiffe, die sich der Westküste Tineag’ls näherten und auf dem stürmisch gischtenden Meer kaum zu erkennen waren. Am Morgen hatte der Wind erheblich aufgefrischt und das Wetter sich verschlechtert.
»Dartun, sie sind da!«, rief sie und weckte ihn, der mit ausgestreckten Beinen an einem Baumstamm gedöst hatte.
»Bist du sicher, dass es keine Kaiserlichen Truppen sind?«, fragte er und sah erst zu dem Zelt hinüber, in dem Todi und Tuung schliefen, dann zu den Hunden, die sich an einer windgeschützten Stelle aneinanderschmiegten.
»Sie haben keine Banner gesetzt. Und seht!« Sie wies auf einen violetten Lichtstrahl, der vom Meer in die Wolken fuhr wie ein umgekehrter Blitz.
»Sie sind es wirklich«, pflichtete Dartun ihr bei, hielt kurz inne, umarmte sie und küsste sie auf die Wangen. Sie fuhr fast zusammen, fühlte sich angesichts solcher Nähe seinerseits eher unbehaglich. So war sie mitunter – warum blieb sie dann trotzdem bei ihm? Hinderte etwa die Angst sie daran, ihn zu verlassen?
Dartun ging zum Zelt, zog die Eingangsklappe beiseite und stieß seine Begleiter mit dem Fuß wach. »Sie sind da. Aufstehen!«
Die beiden Männer ächzten. »Nicht noch so ein Tag in dieser Kälte«, jammerte Tuung.
»Nein, nein.« Dartun zog ein Messingrohr aus einer Reisetasche und rammte es der besseren Standfestigkeit wegen in den Schnee. Dann zog er die Handschuhe aus, nahm einige dezente Korrekturen an den Einstellringen vor und brachte sich hastig bei Verain in Sicherheit, ehe ein purpurner Blitz mit krachendem Donner in den Himmel fuhr.
Dartun wandte sich erneut den Schiffen zu. Sie stiegen gleichgültig mit den Wogen auf und ab wie alte Seeungeheuer und nahmen Kurs auf sein Signal.
Die vier Kultisten fuhren samt Ausrüstung mit dem Schlitten zur Küste hinunter, wobei ihnen der Schneeregen waagrecht ins Gesicht wehte. Sie erreichten einen felsigen Strand. Dartun stieg vom Schlitten und inspizierte die drei imposanten, im flachen Wasser hoch aufragenden Schiffe, die ursprünglich in einem weiter südlich gelegenen Militärhafen stationiert gewesen, dann aber von politisch Andersdenkenden entführt worden waren. Kein Wunder also, dass soldatische Runen in die Schiffsrümpfe geschnitzt waren. An Bord standen mehrere Mitglieder des Ordens der Tagundnachtgleiche in Habtachtstellung und sahen zu ihrem Anführer hinunter.
»Sele von Jamur!«,
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