Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
unmerklich, war also wohl der Denker von beiden. Plötzlich traf sie eine eiskalte Böe, und die Krieger neigten den Kopf zur Seite, als lauschten sie den Geräuschen der Wildnis.
Sie sind gekleidet, als wären sie auf der Pirsch – oder als würden sie gejagt …
»Auf dieser Insel treiben sich seltsame Geschöpfe herum, Magier. Sie ähneln keinem uns bekannten Tier.«
Dartun fragte sich, ob einige seiner Untoten entflohen und ohne Anleitung seiner Ordensleute so weit nach Norden gezogen waren. Doch das war unmöglich. »Geschöpfe?«, wollte er wissen.
»Deshalb sind wir hergekommen. Weil unsere Leute uns ausgesandt haben, die Dinge im Auge zu behalten, wie es das Muschelorakel gefordert hat.«
»Was sollt ihr denn im Auge behalten? Ist deshalb niemand zu sehen?«
Der Krieger nickte. »Wegen dieser Geschöpfe ist keiner unterwegs. Sie haben die Leute aus Städten und Dörfern verschleppt.«
»Was sind das für Geschöpfe?«, fragte Dartun. Der beschränkte Sula-Wortschatz machte ihn langsam ungeduldig.
»Ich weiß nicht, ob sie einen Namen haben«, erwiderte der Jäger. »Sie sind wie Wesen des Meeres, ziehen aber über Land. Sie ähneln nichts, was ich beschreiben könnte.«
Ob es Zweifüßler sind? »Gehen sie aufrecht?« Dartun spazierte mit zwei Fingern über die linke Handfläche. »Auf zwei Beinen? Und kommen sie trotzdem aus dem Meer?«
»Ja, sie gehen wie Ihr und ich, haben aber den Panzer eines Hummers. Oder eher den eines Krebses. Er ist dunkelrot wie die untergehende Sonne, und unsere Pfeile können ihn nicht durchdringen. Wir wollten einige dieser Geschöpfe erlegen, besser gesagt: Einige unseres Stammes haben das versucht. Doch wir wurden rasch dezimiert.«
Dartun war von dieser Schilderung frappiert. »Sind diese Geschöpfe noch hier in der Gegend?«
»Möglich.« Beide Männer zuckten die Achseln. »Es ist zu schwierig, sie zu erwischen, und sie haben sehr viele Menschen umgebracht.«
»Wie viele?« Dartun brannte darauf, mehr zu erfahren, da er in keinem Bestiarium des Archipels von solchen Geschöpfen gelesen hatte. Er war so erregt wie besorgt, und diese Mischung entsprach seiner eigentlichen Natur.
»Fast alle Bewohner der Insel«, sagte der Kleinere beiläufig und so ruhig, als spräche er über das Wetter.
» Alle? «, flüsterte Dartun. »Aber auf Tineag’l leben doch Hunderttausende! Die können doch nicht alle umgebracht worden sein?«
Der größere Krieger ächzte. »Dann sagt mir, wie viele Leute Ihr seit Eurer Ankunft hier gesehen habt.«
Dartun begriff, dass die beiden recht hatten. Diese Erkenntnis setzte ihm zu, erregte ihn aber zugleich auf elementare Art. So war es mit seinem ständigen Durst nach Wissen und Verstehen. Eine neue, unbekannte Gattung war eine sensationelle Nachricht. »Könnt Ihr mir bitte mehr über diese Geschöpfe erzählen?«
»Das war leider schon alles, Magier.« Sie gingen ärgerlich ruhig zu ihren Pferden zurück. Einer sagte noch: »Wir hatten große Probleme wegen der kommenden Eiszeit.«
Eiszeit – da war das Wort wieder, das eine völlige Veränderung der Welt bezeichnete. Das Leben der Menschen, ihre Heimat, ihre Gedanken, all das würde sich von Grund auf wandeln, und ob die Dinge je wieder in die alte Ordnung zurückkehrten, war überaus ungewiss.
Dank der Eiszeit konnte er nun die Tore zu anderen Welten ansteuern, denn das Gebiet, wo die Karten früher nur Wasser verzeichnet hatten, war inzwischen von Eis bedeckt. Ob eine neue Gattung über diese Brücke in den Archipel eingedrungen war? Ob sie durch die gleichen Tore gekommen sein mochte, durch die er in neue Welten zu gelangen hoffte?
Dartun beobachtete seine Ordenskameraden, die rasch das Interesse an einer Unterhaltung verloren hatten, von der sie wenig bis nichts verstanden. Die drei trotteten müßig herum und traten mit den Stiefelspitzen Schnee hoch.
Todi merkte, dass er sie ansah. »Was ist, Godhi? Was haben die beiden gesagt?«
Dartun rieb sich die Stirn, als wollte er eine höhere Wachheit erlangen. »Dass sich ein Riesenmist zusammengebraut hat, um genau zu sein.«
Verain trat heran und nahm Dartuns Arm. »Müssen wir uns Sorgen machen?«
Er berichtete, was er erfahren hatte, während die drei ihn nur anstarrten wie einen Verrückten.
»Es war ein Massenmord«, fasste Dartun zusammen. »Die Insel wurde entvölkert.«
Ihre Laune verdüsterte sich spürbar.
»Kommt«, sagte er und ging zu den Hunden zurück. »Es schadet sicher nicht, die Sache ein wenig zu
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