Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Urtica und erhob sich nun doch von seinem Stuhl. Das war unglaublich beschämend. Er trat an den Kamin, nahm einen Schürhaken und begann im Feuer zu stochern, was ganze Funkenwolken aufsteigen ließ. Für ihn als Oberbefehlshaber war dies eine ungemeine Demütigung, auch persönlich. Männer waren leicht zu ersetzen, doch ein solches Versagen würde seinen Ruf für alle Zeiten besudeln.
»Nun, wir müssen die Insel erobern, egal, wie«, sagte er. »Ich werde keine Niederlage des Kaiserreichs zulassen, auf gar keinen Fall. Wir müssen Varltung besetzen – koste es, was es wolle. Habt Ihr verstanden?«
Er fuchtelte beim Reden mit dem Schürhaken vor dem Kopf des Garudas herum, fragte sich aber zugleich, warum er sich die Mühe machte, einen dummen, wertlosen Soldaten zu beschulmeistern. Dann überlegte er, welche Botschaft der Rat an die Einwohner Villjamurs richten sollte. Er sah schon vor sich, was auf den Flugblättern zu stehen hatte: Varltung hat unsere tapferen Krieger im Eis abgeschlachtet – eine terroristische Gräueltat – eine brutale, gegen die Allianz demokratischer Staaten gerichtete Barbarei … Diese Parolen würden, wie ihm aufging, sogar eine Rechtfertigung für einen uneingeschränkten Feldzug liefern, der ihnen während der Eiszeit Zugriff auf weitere Ressourcen verschaffen würde.
»Erholt Euch ein wenig, Flugleutnant«, befahl Urtica und tat vollkommen ruhig. »Bald habt Ihr wie Eure Kollegen mit Instruktionen loszufliegen, jeden Soldaten aufzubieten, den wir in Villjamur entbehren können. All diese Männer werden ostwärts in Marsch gesetzt, um die dreckigen Stämme von Varltung gemeinsam anzugreifen. Gefangene werden nicht gemacht – jeder männliche Erwachsene dort wird getötet, jeder Junge enthauptet. Die Städte sind in Schutt und Asche zu legen. Und nun legt Euch schlafen. Der morgige Tag wird anstrengend.«
Ja, Kanzler . Der Vogelsoldat richtete sich auf und wankte aus dem Zimmer.
Kaum war er weg, schleuderte Urtica den Schürhaken durchs Gemach. Zwei Diener kamen, um nachzusehen, doch er jagte sie unter Beschimpfungen davon.
Diese militärische Niederlage war fast so beschämend wie der Verlust kaiserlichen Territoriums. Was würden die Leute von ihm denken – und von dem Reich, das er nun lenkte?
Ratsfrau Delboitta platzte mitten in seine Paranoia. In ihren dürren alten Händen hielt sie ein Dokument, das seine Anspannung immerhin zeitweilig zu lindern vermochte. Er musterte ihre hageren Züge; im Schein des Feuers traten vor allem ihre hohen Wangenknochen hervor. Bis auf einige graue Strähnen war ihr Haar schwarz.
»Kanzler Urtica.« Sie sprach knapp und präzise und brachte jeden dazu, ihr Silbe für Silbe zu lauschen. Nun drückte sie die Eichentür zu, um mit ihm ungestört zu sein. »Magus Urtica – darf ich Euch hier so nennen?«
»Ja, aber nur leise, denn die Wände haben Ohren – schließlich ist das ein Regierungsgebäude … «
Sie war eine gut aussehende Frau von beinahe fünfzig, deren Mann – ebenfalls Ovinist – drei Jahre zuvor gestorben war.
»Was habt Ihr denn für mich?« Er führte sie an den Tisch. »Austern gefällig?«
»Danke, aber ich habe gerade gegessen.« Sie entrollte das Pergament ein gutes Stück von Urticas Mahl entfernt und beschwerte die Ecken mit Gläsern. Gemeinsam beugten sie sich über den Text. Ihr Atmen verriet – wie er hoffte – wenig.
Zuerst wies sie auf die alten Runen und die Stempel, die die Echtheit des Dokuments anzeigten. Im Grunde genommen handelte es sich um einen Befehl, der den Aufstieg Urticas zum Kaiser verbürgte, da er Rika zur Massenmörderin machte. Und der Mord an den hungernden Flüchtlingen würde unter dem Deckmantel der Großzügigkeit stattfinden. Hoffentlich würden sie in Mengen sterben und keine Last mehr sein. Alle Spuren kaiserlichen Scheiterns wären dann getilgt.
»Großartig«, flüsterte Urtica und überflog den in alter Kalligrafie abgefassten Text und die Runen und Siegel. Alles entsprach den rechtlichen Dokumenten Villjamurs so genau, dass es unmöglich schien, die Fälschung zu erkennen.
»Bis wann werdet Ihr die Unterschriften eintragen?«, fragte Ratsfrau Delboitta und sah mit großen Augen zu ihm auf, als würde sie ihn anbeten und alles für ihn tun – das wenigstens mochte er glauben.
Möglichst wenige Menschen sollten wissen, dass er die Unterschriften selbst fälschen würde, doch sie war immerhin Ovinistin. Sie stand auf seiner Seite. »Bis morgen vor Sonnenuntergang. Ich
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