Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Szenerie schlau zu werden, machte Dartun mit seinen drei Begleitern einen gründlichen Rundgang durch die Stadt. Sie besahen sich verwüstete Bauten und aus Angeln gebrochene Türen, vor Eingängen verstreutes Werkzeug, geborstenes Holz in Flecken aus rotem Schnee sowie zerbrochene Schwerter, die in Seitengassen lagen. Hier hatte eindeutig ein furchtbarer Kampf stattgefunden.
Während er die Spuren im Schnee inspizierte, gewann er langsam eine Vorstellung davon, was geschehen sein musste. Diese Wesen waren von Norden gekommen und hatten alle Häuser systematisch verwüstet, die Bewohner nach draußen getrieben und einige umgebracht. Den wenigen Blutflecken und den vielen Spuren zufolge waren längst nicht alle getötet, sondern wie eine Herde nach Norden zurückgetrieben worden.
Sie entdeckten weitere Leichen, Menschen, die in ihren Häusern getötet worden waren: zwei Kinder, einen Säugling ohne Kopf, fünf ältere Männer, sechs alte Frauen. Ein Alter lag in seinem Hof und hatte ein Jorsalir-Kunstwerk in den gefrorenen Händen: Bohr und Astrid in inniger Umarmung. Unwillkürlich überlegte Dartun, wie nutzlos dieser heilige Tand in den furchtbaren letzten Momenten des Opfers gewesen sein mochte. Wie viel Glauben musste dieser Mann besessen haben, um anzunehmen, diese Darstellung könnte ihn vor dem Schrecklichen bewahren!
Die letzte Entdeckung war am beunruhigendsten: Eine ältere Frau lag entblößt in einer Metallwanne voll blutigen Wassers; ihr Oberkörper war von drei senkrechten Schnitten entstellt, und der Gestank schier überwältigend. Todi wurde übel, und er musste das Zimmer verlassen. Erneut schienen Knochen zu fehlen, zumal Becken und Schienbein. Der rechte Arm war abgetrennt und lag in mehreren Teilen im Zimmer, während die linke Hand noch immer den Wannenrand umkrallte.
Dartun öffnete die Läden, um frische Luft einzulassen. Über die Hügel in der Ferne zogen Vogelschwärme friedlich gen Süden, um der Kälte zu entfliehen. Es war windstill, als die Sonne durch die Wolken brach.
»Wie erklärt Ihr Euch diesen … Wahnsinn?«, fragte Tuung und trat zu Dartun ans Fenster.
»Die Zeiten sind finster, mein Freund, stockfinster«, erwiderte Dartun seufzend.
»Was steckt hinter alldem? Und warum geschieht es?«
»Ich erkenne langsam Strukturen. Vermutlich sind die Bewohner der Insel einer fremden Gattung zum Opfer gefallen, einer Gattung, die die beiden Jäger gesehen haben, mit denen wir sprachen. Die Überlebenden wurden zusammengetrieben und verschleppt. Aber wohin und warum? Wer, zum Henker, kann schon sagen, warum?«
»Das alles ist so sinnlos!« Tuung schlug wütend aufs Fenstersims. Dartun hatte den zähen Kultisten noch nie so entmutigt gesehen.
Ereignisse wie dieses veränderten die Leute.
»Für sie ist es vermutlich nicht sinnlos«, erwiderte Dartun. »Ihr betrachtet die Dinge aus menschlicher Sicht, aber diese Wesen dürften kaum so denken wie Ihr und ich.«
»Das verstehe ich nicht. Philosophiert Ihr wieder?«
»Warum wohl haben sie bloß die Leichen der Alten und der ganz Jungen zurückgelassen?«, fragte Dartun und wies auf die Frau in der Wanne.
Tuung zuckte die Achseln. »Weil sie die Schwächsten sind und darum am leichtesten umzubringen? Keine Ahnung.«
»Genau«, gab Dartun zurück. »Bei den wenigen Leichen, die wir bisher entdeckt haben, handelt es sich um Kinder und alte Leute, also um die Schwächsten , ob Mensch oder Rumel. Allen wurden die Knochen ganz oder teilweise entfernt – als hätten sie sie untersuchen wollen und die Toten weggeworfen. Als hätten sie sie nicht für gut genug befunden.«
»Dann sind sie also hinter unseren Knochen her?«
Dartun stieß ein bitteres Lachen aus. »Wahrscheinlich. Jedenfalls haben sie Gefangene genommen und gehen offenbar bewusst auf Menschenjagd. Vielleicht jagen sie auch Rumel, da wir bisher keine gesichtet haben.«
»Völlig krank ist das«, brummte Tuung.
»So ist das Leben«, erwiderte Dartun, »sofern man es aus einem anderen Blickwinkel betrachtet. Diese Wesen tun nur, was das Kaiserreich jahrtausendelang anderen Kulturen und Gattungen angetan hat, indem es ihre Welten plünderte, um die eigene noch kostbarer zu machen.« Dann fügte er hinzu: »Und wir nennen uns eine aufgeklärte Zivilisation!«
»Euch kann das ja egal sein«, raunte Tuung und strich sich über den Kopf, als wollte er die Zeichen seines Alterns betonen.
So beiläufig diese Bemerkung gewesen war, traf sie Dartun doch schwer, und sein Blick
Weitere Kostenlose Bücher