Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Schneefall. Als Marysa sich umwandte, fiel Tuya auf, wie schön sie für eine Rumelin war. Zwar war sie nicht mehr jung, besaß aber noch immer jugendlichen Charme. Ihre nahezu schwarze Haut gab ihr eine exotische Anmutung – man sah nicht viele so dunkle Leute in der Stadt; die meisten Bewohner waren braun oder tiefgrau. Vielleicht gab ihr das den Zauber eines Geheimnisses, das Ermittler Jeryd nie wirklich lösen konnte.
Dann saßen beide Frauen in dicker brauner Kleidung da, die nicht eben vorteilhaft war, aber warm hielt. Lange herrschte eine angespannte Stille zwischen ihnen, da sie unvermittelt zusammengebracht worden waren. Besucher setzen ihre Gastgeber ja oft in Verlegenheit, und Tuya entnahm dem zögernden Blick der Rumelin, dass auch sie unsicher war, wie sie mit der Situation umgehen sollte.
Ein gegen die Scheibe knallender Schneeball ließ beide zusammenzucken.
»Möchtet Ihr einen Tee?«, fragte Marysa.
»Danke, aber Ihr braucht nicht höflich zu mir zu sein. Ich verstehe gut, dass Ihr jemanden wie mich nicht in Eurem Haus haben mögt.«
Marysa stand auf und ging in die Küche. »Jeryd sagte, dass Ihr in Schwierigkeiten steckt und Leute hinter Euch her sind.«
Tuya fragte sich, ob Jeryd seiner Frau erzählt hatte, was sie durchgemacht und welche Zerstörung sie womöglich angerichtet hatte. Allerdings wollte sie Marysa nicht darauf ansprechen, um die Unterhaltung nicht noch schwieriger zu machen.
»Ich arbeite als Hure«, sagte sie freiheraus.
Marysa warf ihr einen kurzen Blick zu. »Oh!«
Wieder schlug ein Schneeball ans Fenster.
»Das ist weniger schlimm, als Ihr denkt. Ich bin wählerisch.«
Wie gemütlich es war mit den klappernden Tassen, dem prasselnden Feuer, dem kochenden Wasser!
»Ich bin etwas in Schwierigkeiten, weil einige Leute nach mir suchen. Sie wollten etwas, das ich ihnen nicht geben konnte.« Tuya lachte innerlich: Was sollte sie einem Mann nicht zu geben vermögen? »Ihr habt es gut, jemanden wie Jeryd zu haben. Er scheint ein wirklich guter Kerl zu sein.«
»Das ist er.« Marysa fuhr ein wenig zu schnell herum, und ihre Miene gab Tuya zu verstehen, die Finger von ihrem Gatten zu lassen.
»Ich habe nie jemanden so geliebt wie Ihr«, sagte Tuya. »Überhaupt war ich nie verliebt.«
»Tatsächlich nicht?«, fragte Marysa, und in ihrer Stimme lag aufrichtiges Interesse.
»Niemals. Und ich bin über vierzig. Ich habe nie einen Mann getroffen, mit dem ich mich wirklich verstanden habe. In meinem Beruf ist es wahrscheinlich leichter, wenn man Menschen gegenüber nicht zu anhänglich ist.«
»Verstehe.«
»Ich hatte Männer, die verknallt in mich waren«, fuhr Tuya fort. »Einsame Männer vor allem scheinen sich ungemein leicht zu verlieben.«
»Warum tut Ihr … was Ihr tut?«, fragte Marysa so verlegen wie neugierig.
Tuya dachte einige Zeit nach. »Des Geldes wegen, würde ich gern sagen. Immerhin ist es leicht verdient. Ich muss nicht viel tun, sondern nur einsetzen, womit ich gesegnet bin. Aber inzwischen spüre ich eine Leere, die ich einfach nicht erklären kann – eine Art seelische Narbe.« Sie fuhr sich mit der Hand über die eine Wange. »Manchmal ist man einen Weg so weit gegangen, dass einem nur noch die Würde bleibt, ihn weiterzuverfolgen, auch wenn es der falsche ist. Denn anzuhalten und nachzudenken … tut am meisten weh. Eine gewisse Würde ist alles, was ich noch habe.«
Tuya kämpfte gegen die Tränen an, doch da Marysa nun auf sie zukam, würde ihr das wohl misslingen. Die Rumelin nahm sanft ihre Hand.
Wieder ein Knall, diesmal vom Dach her.
Tuya sah auf. »Was ist das?«
»Das sind die verdammten Kinder. Sie bewerfen das Haus mit Schnee. Meist hört das nach einer halben Stunde auf, aber bis dahin ist man fast wahnsinnig.«
Ein Schneeball brach durchs Fenster und platzte – begleitet von kreischendem Kinderlachen – auf dem Teppich.
Im Büro angekommen, überprüfte Jeryd seine Armbrust. Diese Waffen wurden nicht mehr so gebaut wie einst. Früher ließen sie sich einfach nachladen: Bolzen einlegen und klick . Doch bei der neuen Waffe, die er in der Hand hielt, musste man den Bolzen tief einführen, ehe er einrastete. Sicher, diese Armbrust reichte deutlich weiter (so hieß es jedenfalls), doch man benötigte zu viel Zeit zum Nachladen – Zeit, in der andere einem die Kehle durchschneiden konnten. Er brauchte eine so schnelle wie tödliche Waffe, mit der er im Dunkeln rasch schießen konnte. Der Rumel hielt die Armbrust mal so, mal anders
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