Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Gedanken gelesen.
»Bringt das Vieh zur Strecke!«, rief er den Untoten mit auffordernder Handbewegung zu. Sie watschelten träge und wie betäubt voran und blickten dabei in eine unbestimmte Ferne. Ungefähr zu fünfzig waren sie um ihr potenzielles Opfer versammelt, als ein weiteres Geschöpf von der unsichtbaren Mauer fiel und auf die Untoten stürzte, ohne dass die auch nur leisen Protest oder Beunruhigung verlauten ließen.
»Schluss jetzt«, entschied Dartun und wandte sich seinem Schlitten zu. »Auf geht’s zum Welten-Tor!«
Der Morgen dämmerte rasend schnell herauf, und binnen kürzester Zeit huschten schon ihre Schatten übers Eis. Die Fahrt war unbequem, und alle schwiegen. Niemand schien auch nur erwähnen zu wollen, dass sie gerade Wesen aus einer anderen Welt begegnet waren.
Schließlich kamen die Schlitten zum Halt. Alle stiegen ab und standen in der gleichen flachen Landschaft wie seit Tagen.
Noch immer wortlos, sahen sie Dartun auf das riesige glühende Tor zugehen, das fünfzig Schritte entfernt knapp über dem Eis zu schweben schien. Ein paar rothäutige, mit Schwertern bewaffnete Rumel standen neben dem Tor, hatten aber wohl weder die Kultisten noch die Untoten bemerkt. In ihren Waffen spiegelte sich die aufgehende Sonne. Verain überlegte, wie viele solcher Rumel noch hinter der Schwelle warten mochten.
Sie sah Dartun ein Aldartal hervorziehen, ein schmales Messingrohr, mit dem sich die Zeit anhalten ließ. Während er sich näherte, schlangen Todi und Tuung die Arme umeinander und waren plötzlich ein Stück weit entfernt und nahmen ein paar Habseligkeiten von ihrem Schlitten. Dann hob Dartun für Verain den Zeitstillstand wieder auf, hielt das Aldartal aber noch immer in der Hand.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ja«, antwortete Verain, setzte die Kapuze auf und schob die losen Strähnen ihres schwarzen Haars darunter. Dartun warf ihr einen liebevollen Blick zu.
»Wir sind endlich am Ziel«, sagte er lächelnd.
»Ich hab ein wenig Angst.«
»Das liegt bloß am Unbekannten. Nur davor fürchten wir uns stets. Ich pass auf dich auf – das versprech ich dir.«
Sie blickte sich um und stellte fest, dass alle anderen nun reglos waren. Selbst die Untoten standen erstarrt da. Auch die Rumel-Soldaten vor ihnen rührten sich nicht. Im schneeigen Dunst glühte das Welten-Tor einladend.
»Ich erlöse eben noch unseren Haufen, und dann brechen wir auf«, sagte Dartun fröhlich, ging zurück und befreite die übrigen Kultisten vom Joch der Zeit.
Die Hunde dagegen ließ er in ihrer Erstarrung, da sie auf der nächsten Etappe der Reise nicht mehr nötig waren.
Als er wieder zu Verain zurückkam, stapften ihm alle Kultisten nach. Es war ein unwirklicher Anblick, wie da einige Dutzend Männer und Frauen in schwarzen Umhängen übers Eis marschierten.
Sie hielten auf die rothäutigen Rumel zu, wobei Dartun als der Erwartungsvollste ein wenig vorauslief. Insgesamt hielten sich zwanzig Rumel am Tor auf, doch das erlaubte keine Rückschlüsse auf die Zahl derer hinter der Schwelle. Sahen diese Rumel ihren Weltenwechsel womöglich genauso skeptisch wie Verain den eigenen? Ein bitterkalter Wind ließ sie den Kopf senken, doch sie blieb in den Fußstapfen ihres Vorgängers. Als sie erneut aufsah, merkte sie, dass das Licht des Welten-Tors keine Schatten warf. Wie alt mochte die Technologie sein, die dieses Ding erschaffen hatte? Es ragte immer gewaltiger auf, und je näher sie ihm kam, desto unfassbar höher erschien es ihr.
Über den heulenden Wind hinweg hörte sie Dartun sagen: »… wir müssen vorsichtig sein, denn wir wissen nicht, was hinter der Schwelle liegt. Egal, welche Relikte ihr dabeihabt – vergewissert euch, dass sie griffbereit sind!«
Er war im hellen Licht kaum mehr als eine Silhouette. Sie spürte ihn sich umsehen und ihr zulächeln und war unwillkürlich von seinem Eifer angesteckt. Dieser Mann wusste, was er tat. Einen Moment lang vergaß sie alles ringsum und erinnerte sich daran, dass sie einander liebten. Aber was genau hoffte er hier zu finden? Das war noch so eine Eigenschaft von ihm: dieses dauernde Mysterium. Stets hatte er mit geheimen Dingen zu schaffen.
In diesem Moment überschritt Dartun Súr mit lässiger Anmut die Schwelle in eine andere Welt.
KAPITEL 45
Marysa beobachtete, wie Jeryds verschwommene Silhouette auf dem Weg zur Arbeit an der Frontscheibe des Hauses vorbeikam, und Tuya sah ihr dabei zu. Die Morgensonne drang mühelos durch den zarten
Weitere Kostenlose Bücher