Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
abspulen konnte, die alle in die Frage mündeten, was wohl aus diesem oder jenem geworden war. Weil seine harte Haut so runzlig war, hatte Jeryd die Augen des alten Rumels erst nicht erkannt. Wie seine drei Helfer war der Erzinquisitor in die Uniform seiner Behörde gehüllt und trug eine blutrote Robe und ein Medaillon, das einen Schmelztiegel darstellte.
»Ermittler Jeryd, bitte setzt Euch!« Der Erzinquisitor wies auf einen leeren Stuhl.
Jeryd rückte seine Robe zurecht und nahm Platz. Wie er diese Besprechungen verabscheute! Einige Leute in der Inquisition schienen nur dafür zu leben, Unterlagen von einer Akte zur anderen zu verschieben. Sie waren so ganz anders als er, der er die Behörde gern verließ, um sich in der Stadt umzuhören. Er legte sein Notizbuch auf den Tisch und begegnete dem schweifenden Blick seines Vorgesetzten.
»Meine Helfer berichten mir, Ihr wollt den Ratssaal besuchen. Ist das der Fall?«
»Ja, Erzinquisitor«, erwiderte Jeryd. »Und soweit ich weiß, haben diese Helfer mein Ansinnen genehmigt.« Er wies auf die drei anderen Rumel. »Vielleicht können wir diese Untersuchung also rasch erledigen.«
Der Erzinquisitor wandte sich den Helfern nacheinander fragend zu, und die drei gaben brummelnd ihr Einverständnis kund – ein hypnotisches Klagelied, das Jeryds Langeweile nur vergrößerte.
»Sehr gut. Also, Ermittler Jeryd, ich habe Euch ganz einfach hergebeten, um Euch zu bedenken zu geben, dass jedes Mal, wenn sich einer unserer Ermittler dort hinaufwagt, unvermeidlich Aufregung entsteht. Bekanntlich kommen wir mit den Räten nicht allzu gut aus. Sie mögen es nicht, wenn wir in ihren Angelegenheiten herumstochern.«
»Ich verstehe, Erzinquisitor, doch ich bemühe mich, den Tod von Ratsherr Ghuda aufzuklären, und denke, dass sie in diesem Fall sehr entgegenkommend sein werden, damit keinem von ihnen etwas Ähnliches widerfährt.«
»Richtig, Ermittler Jeryd. Aber woher wissen wir, dass keiner aus dem Rat Ghuda hat aus dem Weg schaffen lassen?«
»Das ist allerdings möglich. Doch wenn sie nichts zu verbergen haben, werden sie mich meine Arbeit tun lassen.«
Der Erzinquisitor stieß ein dumpfes Lachen aus, das zu einem Husten wurde. Seine Helfer reichten ihm einen Becher, und der alte Rumel schlürfte dankbar daraus. »Nun, wir haben leider ein heikles Verhältnis zum Rat – zerstört es bitte nicht weiter!«
Jeryd erwiderte nichts und dachte: Das ist mir völlig egal, solange die Ermittlungen erfolgreich und die Straßen wieder sicher sind.
Fortwährend fiel eiskalter Schneeregen, als wollte die Sonne sich nie mehr zeigen. Wenn die Bewohner Villjamurs morgens Türen und Fenster öffneten, hatten sie stets den gleichen trostlosen Anblick vor Augen und hofften – vielleicht naiv – auf ein wenig Sonne. Das ließ Enttäuschung durch die Stadt laufen wie kleine Wellen über einen schwermütigen Teich.
Jeryd zeigte den Wächtern am Tor des Balmacara sein Inquisitionsmedaillon. Die drei grimmigen Männer musterten ihn und Tryst misstrauisch, und nachdem Jeryd sie an die Rechte der Inquisition erinnert hatte (zu denen völlige Bewegungsfreiheit in Villjamur sowie die Erlaubnis gehörten, alle Gegenden des Kaiserreichs zu besuchen – beides Privilegien, von denen kein Wächter hören wollte), taxierten sie ihn nur umso skeptischer. Die beiden Besucher ließen ihre Pferde zu den seitlich gelegenen Stallungen führen und stiegen die große Treppe zum Ratssaal hinauf.
Kanzler Urtica kam ihnen beschwingten Schrittes und mit einstudiertem Lächeln entgegen.
»Ah, der Herr Ermittler«, sagte er heiter. »Freut mich, Euch in unseren bescheidenen Räumen willkommen zu heißen. Darf ich fragen, wie Ihr vorzugehen wünscht?«
Jeryd schüttelte ihm die Hand. »Ich bin Ermittler Rumex Jeryd, und das ist Gehilfe Tryst.«
»Gehilfe Tryst«, wiederholte der Kanzler. »Sele von Jamur Euch beiden!«
Jeryd bemerkte etwas Seltsames in Urticas Gesicht, ein Zucken der Muskeln, als ob er Tryst schon begegnet wäre. Wie aber, überlegte der Ermittler, mochte das möglich gewesen sein?
»Wie Ihr wisst, sind wir gekommen, um den Mord an Delamonde Ghuda aufzuklären«, stellte er fest.
»Gut.« Die Miene des Kanzlers verfinsterte sich. »Er war … ein enger Freund von mir. Habt Ihr schon eine Idee, wer dieses schändliche Verbrechen begangen haben könnte?«
»Wir verfolgen einige Spuren«, gab Jeryd zurück, »aber es gibt noch viele Fragen. Ich möchte Ghudas Zimmer sehen und hoffe, dass dort
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