Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Augenklappe oder hatten ein Ohr abgeschnitten bekommen. Ein Mann in seiner Nähe hatte ein Holzbein, das direkt unterm Knie begann. Unverhohlen wurde mit Messern herumgefuchtelt, und Schwerter lehnten für alle sichtbar an den Tischen.
Randur hatte darüber bisher nicht weiter nachgedacht, aber vermutet, das habe man eben von einer Welt zu erwarten, in der Schwert, Axt und Pfeil eine Verkehrssprache bildeten. Das war der Grund, weshalb die Einwohner die Male andauernder Gewalt aufwiesen. Er fuhr sich mit der Hand durchs bleiche Gesicht, um sich zu überzeugen, keine Wunde zu tragen. In dieser Welt war ein jeder seines Glückes Schmied und spielte die Karten, die ihm zugefallen waren. Bisher war er erfolgreich gewesen, hatte dies aber Vitassi zugeschrieben und nichts sonst.
Denlin kam mit einem dunkelhäutigen Mann mit kantigem Kinn zurück, der nur eine schwarze Tunika trug, als wollte er der nahenden Eiszeit trotzen.
»Das ist der Herr, von dem ich gesprochen habe«, sagte er zu seinem gedrungenen Begleiter.
Randur stand auf und streckte die Hand aus. »Randur Estevu. Es freut mich, Euch kennenzulernen.«
Der Stämmige nickte nur. »Coni Inrún, Händler.«
»Bitte setzt Euch doch«, erwiderte Randur und fragte sich, ob dieser Mann auch Worte mit mehr als zwei Silben äußern konnte. Die drei nahmen am Tisch Platz.
Coni beugte sich vor. »Denlin sagt, Ihr habt Schmuck.«
»Stimmt.« Randur zog einen silbernen Smaragdring aus der Tasche, widerstand jeder Versuchung zur großen Geste und legte das Schmuckstück vor Coni auf den Tisch.
Der Mann zog ein Monokel hervor und untersuchte den Ring eingehend. Randur warf Denlin einen raschen Seitenblick zu, doch der hob bloß die Brauen.
»Sehr schön«, sagte Coni. »Gute Ausführung. Woher habt Ihr den?«
»Eine alte Dame hat ihn mir gegeben«, log Randur. »Sie wollte ihn nicht mehr haben.«
»Hmm«, erwiderte Coni. »Ich gebe Euch fünf Sota. Das ist kein schlechter Preis.«
»Ich will mindestens einen Jamún dafür haben.«
»Sieben Sota«, feilschte Coni.
»Neun«, entgegnete Randur.
»Acht.«
»Neun und Schluss«, sagte Randur.
»Tut mir leid, Herr Estevu.« Coni stand auf.
»Also acht«, gab Randur klein bei.
»Gut.« Coni setzte sich wieder, zog die Münzen hervor und nahm den Ring. »Habt Ihr noch mehr davon?«
»Ein paar, aber sie sind nicht so gut wie dieser.«
Die beiden jüngeren Männer feilschten noch über eine halbe Stunde um den gestohlenen Schmuck. Denlin schwieg, sah dem Handel zu und achtete darauf, dass es keinen Ärger gab. Von seiner ersten Vermittlergebühr orderte er am Tresen exotische Getränke, darunter den legendären Schwarzherz-Rum. Erst wollte Randur nichts davon trinken, doch der Alte bestand darauf, die Getränke seien gar nicht so stark. Nachdem Coni mit sehr viel weniger Münzen, aber einem guten Vorrat an Schmuck gegangen war, tranken die beiden immer mehr. Die Kerzen ringsum brannten nieder, und Männer kamen und gingen. Denlin erzählte Geschichten von Heldentaten beim Militär und sprach mit Randur, wie ein junger und ein alter Mann zu reden pflegen. Lebenserfahrung wurde geteilt: Randur hörte gern zu, und Denlin erzählte gern.
Randur trank, und die Lider wurden ihm schwer. Solche Mengen war er nicht gewohnt.
Es dauerte nicht lange, bis er den Punkt erreichte, an dem er tief drinnen wusste, dass er wahrlich …
… und wahrhaftig …
… hinüber war …
KAPITEL 18
Jeryd betrat den Inquisitionssaal, ein staubiges, förmliches Beratungszimmer, in dem der Erzinquisitor und seine drei Gerechtigkeitshelfer bereits an einem großen Marmortisch saßen. Sie grüßten ihn nur mit einem knappen Aufblicken.
Kein gutes Zeichen.
Das Zimmer war holzgetäfelt, und durch ein Fenster aus teurem Buntglas waren mehrere Ebenen der Außenbezirke von Villjamur zu sehen. Farbige Lichtstrahlen drangen herein, und am anderen Ende des Raums prasselte ein Feuer einladend im Kamin. Verschiedene alte, auf Leinen geschriebene Erlasse hingen an den Wänden, um – wie es hieß – die gegenwärtigen Amtsträger zu beflügeln. Oder um ihn (wie Jeryd es sah) an all die Formulare zu erinnern, die er jeden Tag auszufüllen hatte. Und doch war das – verglichen mit der Kontrolle, die der Rat in anderen Bereichen anordnen konnte – harmlos.
Der Erzinquisitor war ein braunhäutiger Rumel, der fast zweihundertzwanzig Jahre lang für die Inquisition gearbeitet hatte und jede Menge über sein Leben erzählen und endlose Geschichten
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