Die Legende der roten Sonne: Nacht über Villjamur (German Edition)
Büsten, zuerst die von Goltang, einem Kaiser, der vor über zweitausend Jahren gestorben war. Jeryd fragte sich, wie der Künstler etwas Lebensechtes hatte schnitzen können. Goltang hatte das Reich geschaffen und den Grundstein für die Herrschaft über den Boreal-Archipel – das Land der Roten Sonne – gelegt. Eine Abfolge grausamer Feldzüge war das gewesen, bei denen die Ressourcen der Inseln ausgebeutet und unterworfene Stämme zur Arbeit für den Kaiser gezwungen wurden. In den Geschichtsbüchern stand, er habe den Fortschritt exportiert. Und all das hatte er ohne den Rückgriff auf Technologien der Kultisten getan, der seinen Nachfolgern nicht erspart blieb.
Jeryd stellte Goltangs Büste wieder ab und nahm die von Johynn in die Hand. Sofort fiel ihm auf, wie viel leichter sie war. Er hielt sie ans Ohr und schüttelte sie. Drinnen klapperte etwas. Er lächelte und ließ die Büste beiläufig fallen. Sie zersprang in einige Stücke, doch dazwischen war ein Stück Papier zu sehen.
Tryst kam herein, ohne anzuklopfen. »Alles in Ordnung, Sir?«
»Aber ja«, erwiderte Jeryd vage. »Ich war nur etwas unachtsam und hab einen dieser Knaben mit dem Schwanz vom Sockel gestoßen. Wie steht es mit deinen Ermittlungen?«
»So lala. Ich bekomme allmählich eine Vorstellung von seinem Alltagstrott. Das ist alles ziemlich öde, wenn Ihr mich fragt.«
»Und doch ist es wichtig«, betonte Jeryd. »Einen Becher mit heißem Wasser kannst du mir vermutlich nicht bringen, was? Das kalte Wetter setzt meiner armen alten Brust furchtbar zu.« Er hustete, um seine Worte zu unterstreichen. »Und kehr danach zur Inquisition zurück. Ich bleibe derweil hier und arbeite mich durch all die Dokumente. Mal sehen, ob sich nicht etwas Lohnenswertes zum Mitnehmen findet.«
»Wirklich?« Trysts Stimme verriet Argwohn. »Es macht mir nichts aus, Euch zu helfen.«
»Nein, nein, das geht schon. Ich brauche Ruhe, um mich zu konzentrieren.« Jeryd begann erneut heftig zu husten und stützte sich mit einer Hand an der Wand ab, um die Wirkung seines Auftritts zu steigern.
»Selbstverständlich, Herr Ermittler. Ich bringe Euch heißes Wasser.« Tryst verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Jeryd bückte sich, hob das Stück Papier auf, faltete es auseinander und betrachtete die seltsamen Buchstaben und Symbole. Der Text war offenkundig kodiert. Ein Symbol ganz oben allerdings erkannte er wieder: die flüchtige Zeichnung eines Wildschweins. Intuitiv sah er erneut auf den Boden, kramte in den Scherben herum und hielt inne, um einen blauen Edelstein aufzuheben, einen Topas. Das war die erste Spur, denn der Topas galt als das geheime Emblem eines speziellen religiösen Ordens.
Anscheinend ist unser Freund Ghuda Ovinist gewesen .
Jeryd verstand nicht, was Ghudas Verbindung zu dieser Untergrundreligion besagte, und er hatte auch keinen Schimmer, was der chiffrierte Text aus der Büste bedeutete. In seiner Wohnung betrachtete er beides lange Zeit.
Schließlich warf er noch einen Scheit ins Kaminfeuer, machte eine Pause und schaute aus dem Fenster. Es war wieder Nacht, und trotz der Kälte loderte Villjamur vor Aktivität. Soldaten, die dienstfrei hatten, drängten durch die Straßen, suchten Gesellschaft für den Abend und schwankten in Tavernen oder standen an Straßenecken herum und schrien und pfiffen in die kalte Luft. Solche Ausschweifungen wurden seit dem Aufziehen der Winterstarre immer auffälliger. Kinder kletterten auf Mauern und warfen mit Schneebällen nach Fußgängern. Gehetzte Schritte verklangen in der Ferne. In den Nachbargebäuden tauchten in den oberen Stockwerken Lichtquadrate auf, da für den Abend die Laternen angezündet wurden. Als er diese Fenster genauer ins Auge fasste, sah er Gestalten über die Stadt und vielleicht geradewegs auf ihn selbst blicken. Gleich unter seinem Fenster gewahrte er plötzlich Marysa. Sie kam eiligen Schrittes, war in einen Wintermantel gehüllt und hatte den Tag lernend in der Bibliothek verbracht. Während er auf sie wartete, setzte er sich wieder an den Tisch.
Kurz darauf stieß sie die Tür zu seinem Arbeitszimmer mit ziemlicher Wucht auf. Das rasche Gehen ließ sie keuchend atmen, und sie trat direkt ans Feuer.
Jeryd stand auf, um sie zu grüßen, und drückte ihr sanft die kalten Hände. »Wie war dein Tag?«
»Rumex, ich schwöre, dass mir jemand gefolgt ist.« Ihre dunklen Augen waren angstgeweitet, und ihr Schwanz zuckte unruhig hin und her.
»Gefolgt?« Seine Stimme
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